Wer eine Schutzmaske aufsetzt, ist wie einer, der den Glauben verleugnet und die Zahl 666 annimmt. Zu diesem krassen Schluss kommt ein US-Pastor aus Montana angesichts der Maskenpflicht, die die Obrigkeit wegen des Coronavirus verhängt hat. Millionen lesen seine Gedanken im Internet. Was er sagt, erhält eine viel weitere Verbreitung als das, was die vermeintlichen Sprecher und Oberen des amerikanischen Evangelikalismus weitergeben. Die Angst geht um, und mit ihr deren Geschwister Panik und Zorn. Twitter ist voll davon. Und regelmässig erhalte ich Rundschreiben, die die Gesellschaft und die Kirche, die immer gottloser werden, anprangern und davor warnen, was alles auf uns zukommt und wovor wir uns wappnen sollen. Viele Schlüsse, die Gläubige zum Zeitgeschehen ziehen, sind berechtigt. Ich habe in dieser Zeitschrift auch schon vor einer möglichen Zeit der Verfolgung gewarnt. Und doch. Als ich die vielen Brandbriefe, meist per E-Mail, las, als ich auf Twitter und in Blogs die Schlachten zwischen rechtsgerichteten Christen und allen anderen verfolgte, da kam es mir so vor, als blickte ich in einen Spiegel. Und was ich sah, gefiel mir nicht.
«Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land?» – Ich sicher nicht! Der Dauerbeschuss meiner Mitchristen stiess mich ab, obwohl ich ihnen von der Sache her meistens Recht geben würde. Aber der oft schrille Ton und der (ob bewusste oder unbewusste) Unwillen allen gegenüber, die nicht so sind wie wir, war und ist zermürbend. Da ist zwar viel Hitze, aber wo ist das Licht? Unser Herr Jesus sagt: «Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt» (Joh 13,35). Der wohlwollende Leser vergebe mir diese Beobachtung: Aber wenn man die Flut der Texte betrachtet, die in Jesu Namen durch das weltweite Netz rauschen, so scheint es eher, als müssten wir eine traurige Korrektur vornehmen: «Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Panik, Zorn und Angst untereinander verbreitet.»
Der Spiegel, den mir meine zweifellos aufrichtigen Geschwister in Christus vorhielten, überführte mich: Will ich als eine Person, die für Angst und Schrecken steht, in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden? Wenn schon mir das Händeringen derer widerstrebt, mit denen ich eigentlich übereinstimme, wie wird es dann erst denen gehen, die es anders sehen oder die noch verloren sind, die vom religiösen Vokabular überfordert werden und nur noch rauslesen können: «Diese Christen hassen und verachten mich und alles, was mir am Herzen liegt» – selbst, wenn das gar nicht so gemeint ist?
Das Geschäft mit der Angst läuft gut. Wer am lautesten schreit und sich am weitesten aus dem Fenster lehnt, wird zwar von der «Elite» der christlichen Welt verschmäht, erhält aber doch viele Follower, Fans, Leser und Anhänger. Verständlich ist das schon. Der normale Mensch auf der Strasse hat genug von der Schönfärberei, von Lügen, Lügen und nochmals Lügen. Wenn dann einer kommt, der kein Blatt vor dem Mund nimmt und sagt, «wie es ist», laufen ihm viele zu wie Dürstende in der Wüste, die endlich einen Brunnen, der nicht vergiftet oder zugeschüttet worden ist, gefunden haben. Und doch … Wieso wirkt der Gott, den sie zu vertreten behaupten, mehr wie Nemesis, die griechische Göttin des Zorns und der Vergeltung, und nicht wie der Vater, der sehnsüchtig nach dem verlorenen Sohn Ausschau hält und ihm entgegenrennt, als er ihn reumütig zurückkehren sieht?
Deshalb habe ich mir etwas vorgenommen … etwas, das ich an dieser Stelle gerne weitergeben möchte: Ich will mich nicht mehr mit der Dunkelheit beschäftigen, sondern mit dem Licht. Ich will nicht über das meinen Kopf zerbrechen, was die bösen Leidenschaften in mir entfacht, nämlich Zorn, Wut, Angst, Geschrei und Panik, sondern über das nachsinnen, was wahr, gut und schön ist, nämlich alles, was in Jesus Christus selbst vereint ist. Die Mahner mögen sagen, es sei notwendig, darauf hinzuweisen, wie sehr die Ungerechtigkeit und Bosheit in der Gesellschaft überhandnehmen, aber ich möchte mit Gregor dem Grossen sagen (dem Bischof Roms, den sogar noch Calvin geschätzt hat): «Die wahre Gerechtigkeit hat gegenüber den Sündern keinen Unwillen, sondern Mitleid.»
Wir Christen können uns so schnell in Theorien und Spekulationen verrennen. Wir warnen vor Welteinheitsregierungen und Welteinheitsreligionen. Wir missbrauchen das Buch der Offenbarung für unsere politischen Ansichten und Prognosen. Wir verrennen uns in die kompliziertesten Ideen über die Endzeit und verlieren dabei das Wesentliche aus den Augen: Jesus, der für das Heil der ganzen Welt gestorben ist und bald wiederkommen wird. «So tröstet nun einander [und nicht: hetzt einander auf] mit diesen Worten!» (1Thess 4,18). Panik, Zorn und Angst haben die Apostel in ihren Lehrbriefen nicht verbreitet.
In der Welt, die die Apostel kannten, existierten bereits eine römische Einheitsregierung und sowas wie eine griechisch-römische Einheitsreligion. Und doch schrieben weder Petrus noch Paulus oder Johannes ellenlange Briefe, um das «Geheimnis der Gesetzlosigkeit» bis ins letzte Detail zu entschlüsseln (vgl. 2Thess 2,7). Im Gegenteil. Ihre Haltung war ziemlich entspannt, so entspannt, dass die Mahner unserer Tage den Aposteln, wenn sie heute schreiben würden, eine weltfremde Naivität vorwerfen könnten. Die Apostel schrieben den Christen, dass sie sich der Obrigkeit (der römischen Welteinheitsregierung!) unterordnen und für diese beten sollten, damit sie ein stilles und ruhiges Leben in aller Ehrbarkeit und Frömmigkeit führen könnten. Soweit es Christen möglich war, sollten sie mit allen Menschen in Frieden leben und allen ihre Sanftmut erfahren lassen. Und wenn dann die Obrigkeit zum Schwert greifen würde, um die Christen zu verfolgen, sollten sie sich freuen, weil sie gewürdigt wurden, um ihres Herrn willen zu leiden. – Ja, das ist eine grosse Herausforderung und ich masse mir nicht an zu meinen, dass ich diese zutiefst geistliche Haltung selber verinnerlicht hätte.
Das heisst nicht, dass die Apostel nicht von den bösen Zeiten sprachen. Das taten sie, aber dies war, sinngemäss, verbunden mit Aufrufen wie: Lasst euch nicht verrückt machen! Meidet das unnütze Geschwätz! Jesus ist Sieger! Seid treu, jetzt erst recht! Viel zitiert sind zum Beispiel die düsteren Worte des Apostels Paulus über die schlimmen Zeiten der letzten Tage in 2. Timotheus 3,1-8. Wir lesen seine Weissagung und rufen aus: «So ist es heute!» Doch vor lauter Panik über die Welt, die von Christus schon lange überwunden worden ist, vergessen wir weiterzulesen, denn in Vers 9 sagt Paulus über die Bösen: «Aber sie werden es nicht mehr viel weiter bringen», oder anders gesagt: «sie werden wenig Erfolg haben». Die Pforten der Hölle können die Gemeinde des lebendigen Gottes wirklich nicht überwinden.
Deshalb will ich mich in meinem Denken verändern und erneuern lassen, wie es Paulus ausdrückt. Ich will um das Heil meiner Seele willen nicht mehr mein Augenmerk auf das richten, was ich ohnehin nicht kontrollieren oder wissen kann, sondern auf das, was die Liebe Gottes allen Menschen gegenüber grossmacht. Genau das braucht die geplagte Gesellschaft heute!
In Seinen Seligpreisungen sagt unser Herr nicht: «Glückselig sind die, die das Geheimnis der Gesetzlosigkeit entschlüsselt haben und über alle Bosheit Bescheid wissen, denn ihrer ist das Reich der Himmel!» Nein: Das Himmelreich spricht Er den Demütigen, den einfachen und dienenden Seelen zu, denen, die geistlich arm bzw. arm vor Gott sind (Mt 5,3). Es gibt ein alt-christliches Gebet, das dem grossen Missionar Patrick von Irland zugeschrieben wird. Darin bittet er Gott, ihn vor dem Wissen zu bewahren, das entweiht. – Das finde ich bemerkenswert und ist doch eine viel gesündere Haltung für unsere Seele. Wir müssen gar nicht so genau über die Finsternis Bescheid wissen, denn genau das kann uns entweihen und die Liebe in uns erkalten lassen. Wir müssen einfach nur Gott und unsere Nächsten lieben. Denn die Liebe «erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand» (1Kor 13,7).
Paulus ruft uns zu, «herzliches Erbarmen» anzuziehen (Kol 3,12). Barmherzigkeit soll nicht nur ein Teil von uns sein, sondern uns einhüllen. Dies soll an uns so sichtbar sein wie unsere Kleidung. Oft, so fürchte ich, wollen wir zwar sein wie Christus, allerdings, als Er mit der Geissel den Tempel reinigte. Diese Geschichte gefällt uns. Aber wir vergessen all die anderen Berichte in den Evangelien, in denen Jesus Erbarmen hatte mit Huren, Geldeintreibern, Ehebrecherinnen, Sündern und dem einfachen Volk. Seine übliche Reaktion auf die Menschen um Ihn herum war, was Er Seinen Jüngern sagte: «Ich habe Mitleid mit diesen Menschen» (Mt 15,32). Was empfinden wir, wenn wir in diese Welt hinausschauen? Mitleid, Erbarmen und Liebe oder Zorn, Angst und Panik?
Wenn Paulus in Epheser 5,1-2 uns dazu auffordert, Nachahmer Gottes zu sein, dann meint er damit ja nicht: werdet heilige und gerechte Richter wie Gott und zeigt der Gesellschaft, wo der Hammer hängt. Nein, er sagt: «Wandelt in der Liebe, gleichwie auch Christus uns geliebt und sich selbst für uns gegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, zu einem lieblichen Geruch für Gott.»
Das ist, worin wir unseren Gott nachahmen sollen. «Denn der Herr ist voll Mitleid und Erbarmen» (Jak 5,11). Diese Gesinnung soll unter uns sein (Phil 2). Christus fordert uns ohne Umschweife auf: «Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!» (Lk 6,36). – Das ist wichtig. Wenn wir uns als wahre Kinder Gottes unseres Vaters im Himmel erweisen wollen, sind wir nicht aufgerufen, Seine heilige Allmacht, Seine heilige Allwissenheit, Seine heilige Souveränität oder Seinen heiligen Zorn nachzuahmen, was wir gar nicht können, sondern Seine heilige Barmherzigkeit, Güte und Liebe. Das können und sollen wir durch den Heiligen Geist der Liebe, der in uns ist, tun. Und damit erübrigt sich meines Erachtens jede Diskussion, worauf wir in einer gottlosen Welt den Schwerpunkt legen sollten. Denn, wie Gregor der Grosse auch sagt: «Die falsche Gerechtigkeit hat kein Mitleid, sondern Unwillen.»
Daher wage ich die Prognose: Wahre Gerechtigkeit und wahre Heiligkeit finden wir nicht dort, wo am lautesten geschrien, am meisten Angst und Schrecken verbreitet und am intensivsten über das «Geheimnis der Gesetzlosigkeit» spekuliert wird, sondern wo am meisten Barmherzigkeit geübt wird. Barmherzigkeit ist sichtbar gemachte Güte. Barmherzigkeit ist die Schönheit des Himmels in der Praxis. Barmherzigkeit ist die Bestätigung des höchsten Gebots in Wahrheit: Gott von ganzem Herzen zu lieben und seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst.
Gott spricht: «Ich will Barmherzigkeit» (Mt 9,13; vgl. Hos 6,6). Und wir sollen gehen und lernen, was das heisst, sagt unser Herr Jesus. Damit hätten wir für den Rest unseres Lebens genug zu tun und müssten wir uns auch nicht mehr genötigt sehen, uns mit dem Wissen zu beschäftigen, das entweiht. Das will ich mir vornehmen und für mich erwählen. Nicht mehr die Finsternis, sondern das Licht. Denn «die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus» (1Joh 4,18) – in jeder Hinsicht.
«Die wahre Gerechtigkeit hat gegenüber den Sündern keinen Unwillen, sondern Mitleid.» – Maranatha, unser Herr komm!