Wie der Vater, so der Sohn

In Psalm 130 zeigt David die Haltung eines aufrichtigen Gotteskindes. Eine seelsorgerliche Auslegung.

Wir alle kennen die Redewendung «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm». Dahinter verbirgt sich die Tatsache, dass sich die Charaktereigenschaften von Eltern oft in ihren Kindern wiederfinden lassen. Den Ausdruck selbst gibt es etwa seit dem 16. Jahrhundert. Er macht deutlich, dass typische familiäre Merkmale häufig an die Nachkommen weitergegeben werden. Manchmal sind es körperliche Merkmale wie die Augenfarbe oder markante Gesichtszüge. Ein andermal bestimmte Eigenarten oder Verhaltensmuster. Aber gilt diese Redewendung auch für den geistlichen Bereich? David scheint dies in Psalm 131 anzudeuten, einem Psalm, der kindliches Vertrauen verdeutlicht.

Obgleich Psalm 131 David als Autor angibt, war er anfangs nicht mit den meisten seiner anderen Psalmen Teil des Buches. Dieser Psalm wurde den Stufenliedern hinzugefügt. Psalm 131 ist ein trügerisch einfacher und mit nur drei Versen sehr kurzer Psalm, der leicht übersehen werden kann, wenn wir unsere Bibel nur hastig durchlesen. Aber seine Botschaft ist tiefgründig, was der Grund dafür sein könnte, dass der Psalm in dieser Sammlung aufgenommen wurde. Lassen Sie uns also langsam herangehen und uns den Psalm des Vertrauens näher anschauen. Am Anfang bringt David seine Demut gegenüber Gott zum Ausdruck: «O Herr, mein Herz ist nicht hochmütig, und meine Augen sind nicht stolz.» Stolz ist eine oft wiederkehrende Sünde in der Bibel. Sie führte zur Rebellion des Teufels gegen Gott. Als der Teufel Adam und Eva versuchte, bot er ihnen im Grunde an, wie Gott zu werden. Das Buch der Sprüche warnte Israel an vielen Stellen vor den Gefahren des Stolzes: «Stolz kommt vor dem Zusammenbruch, und Hochmut kommt vor dem Fall» (Spr 16,18). Stolz ist ein übersteigertes Selbstwertgefühl, das sagt: «Ich brauche Gottes Hilfe nicht. Ich bin gut genug, es selbst zu schaffen!»

David lässt seine Leser wissen, dass er nicht selbstgenügsam ist! Am Ende des Verses betont er seine demütige Gesinnung, das Gegenteil von Stolz: «Ich gehe nicht mit Dingen um, die mir zu gross und zu wunderbar sind.» Wir sollten verstehen, was David damit nicht zum Ausdruck bringen will. Er deutet nicht an, dass Unwissenheit ein Segen ist oder dass wir uns nicht bemühen sollten, zu lernen und zu wachsen und reifer zu werden. Stattdessen denkt er an solche Aspekte des Lebens, die ausserhalb seiner Kontrolle liegen. Statt mit seinen eigenen Fähigkeiten anzugeben, ist David bereit, demütig anzuerkennen, dass der Gott Israels Gott ist, und er – David – nicht.

Statt zu behaupten, er sei der Herr seines Schicksals und der Kapitän seiner Seele, erkennt David an, dass es vieles im Leben gibt, das über seinen Verstand hinausgeht. Demütig akzeptiert er Gottes souveräne Kontrolle, was aber nicht bedeutet, dass sich David als ein passives Etwas der Menschheit betrachtet, das hilflos durchs Leben getrieben wird. Er spricht von dem Schlüsselelement in seiner Beziehung zu Gott, und das ist viel schwerer zu erreichen, als es erscheinen mag. Dieses Element beschreibt er in Vers 2: «Nein, ich habe meine Seele beruhigt und gestillt; wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter, wie ein entwöhntes Kind ist meine Seele still in mir.»

David zeichnet das Bild eines Kindes, das gerade erst das Säuglingsalter hinter sich gelassen hat. Babys sind bezaubernd, aber auch unglaublich anstrengend, und sie haben viele Bedürfnisse, die von den Eltern gestillt werden wollen. David wählt absichtlich das Bild eines geringfügig älteren Kindes, das bereits entwöhnt ist. Zur Zeit Davids bekam ein Kind bis zum Alter von etwa drei Jahren noch die Brust. Ein Kind in diesem Alter ist älter, reifer und kann sich schon besser beherrschen. Ein dreijähriges Kind ist in einem magischen Alter; es kann noch staunen und besitzt einen kindlichen Glauben und starkes Vertrauen. David hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ein kindliches Vertrauen in Gott zu entwickeln, ein Vertrauen, das ihn nahe bei Gott hält und ihm Zufriedenheit schenkt.

David bemühte sich, die Art von Vertrauen in Gott zu entwickeln, das ein Kind instinktiv in seine Mutter hat. Und im letzten Vers seines kurzen Psalms nimmt David dann diese Wahrheit und wendet sie auf seine Leserschaft an: «Israel, hoffe auf den Herrn von nun an bis in Ewigkeit!» Das Wort für «hoffen» beinhaltet den Gedanken an eine bestimmte Erwartung, ähnlich einem Kind, nachdem es seine Mutter um ein Glas Wasser gebeten hat – es ist geduldig, aber erwartungsvoll.

Beachten Sie, dass der letzte Vers eine deutliche Ähnlichkeit zu dem vorletzten Vers des vorangegangenen Psalms aufweist: «Israel, hoffe auf den Herrn! Denn bei dem Herrn ist die Gnade, und bei ihm ist Erlösung in Fülle» (Ps 130,7). Psalm 130 verrät uns, warum wir erwartungsvoll auf Gott blicken sollen – wegen Seiner treuen Liebe und Erlösung in Fülle. In Psalm 131 lesen wir, wie wir auf Gott warten sollen – mit dem unschuldigen Vertrauen eines jungen Kindes.

Charles H. Dyer ist Sonderprofessor für die Bibel am Moody Bible Institute und Experte für die Geschichte und Geografie des Nahen Ostens. Er dient u.a. als Pastor der Grace Bible Church in Sun City, Arizona.
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