Johannes hatte schon vieles erlebt: Er war mit dem Herrn Jesus durchs Land gezogen und hatte Seine Reden gehört und die herrlichen Taten gesehen. Später hatte er, der auch mehrmals bezeugt, dass der Herr ihn lieb hatte, als einziger Jünger beim Kreuz durchgehalten und den Heiland, den er liebte, als das Lamm Gottes am Kreuz sterben sehen (vgl. Joh 19,3). Johannes hatte gesehen, wie Jesus die Welt mit Gott versöhnte; er hatte die Zeichen gesehen, die die Erde erschütterten, und war nicht davongelaufen, als die Sonne ihren Schein verlor. Und er hatte den Schrei Jesu am Kreuz gehört: «Es ist vollbracht!» Er war aber auch Zeuge der Tatsache gewesen, dass Jesus von den Toten auferstanden war, und er war dabei, als Jesus vierzig Tage nach Seiner Auferstehung vom Ölberg aus gen Himmel fuhr. Auch die Worte des Auferstandenen: «Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden» (Mt 28,18), hatte er gehört.
Aber nun erlebt er das Erschreckende, dass zunächst niemand würdig ist, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen. Es ist, als ob die Fortsetzung der Heilsgeschichte blockiert würde, denn niemand im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde ist würdig, das Testament zu öffnen und dem wunderbaren Erbe Gottes und des Lammes Rechtskraft zu verleihen. Niemand? Niemand als das Lamm selbst! Denn nun kommt einer der vierundzwanzig Ältesten, die um den Thron Gottes sind, und spricht zu Johannes: «Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe, der da ist vom Geschlecht Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und zu brechen seine sieben Siegel» (Offb 5,5).
Warum muss dieser Älteste den Seher Johannes trösten, der doch wusste, dass Jesus überwunden hat? Weil Johannes das tat, was wir so leicht tun. Er hatte den Blick vom Sieg des Lammes abgewendet. Die Folgen sind immer Trostlosigkeit und Tränen. Wie oft bereiten wir unserem Herrn Schande, indem wir weinen und verzagt darniederliegen und resignieren, während Er solch einen grossen, wunderbaren Sieg errungen hat! «Weine nicht!» Mit anderen Worten: «Du hast keine Ursache.»
Es fällt auf, dass dieser Älteste nicht auf die Person des Johannes und dessen Verbindung mit dem Herrn Jesus Bezug nimmt und Vorhaltungen macht im Sinne von: «Du hast es doch gesehen, du solltest es doch wissen, dass Er überwunden hat.» Nein, er spricht nur vom Herrn (V 5). Er beginnt mit: «Siehe, es hat überwunden …» Johannes hatte durch die Blockade, durch die Tatsache, dass niemand würdig war, das Buch zu öffnen, den Blick auf den Sieger verloren.
Sind Sie entmutigt und niedergeschlagen? Dann ruft der Herr Ihnen durch Sein Wort zu: «Weine nicht!» – «Sei getrost, Ich habe überwunden!»
«Es hat überwunden der Löwe, der da ist vom Geschlecht Juda.» Der Löwe ist der König – Jesus Christus ist der König aller Könige und vom Geschlecht Juda. Es ist in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich, dass schon Jahrtausende zuvor der sterbende Jakob (Israel) Juda als «jungen Löwen» bezeichnete. Als er auf dem Sterbebett lag, da liess er alle seine Söhne kommen, um sie zu segnen und Weissagungen über sie auszusprechen. Als sein vierter Sohn Juda an die Reihe kommt, schaut Jakob mit seinen fast blinden Augen in die Ferne und sagt: «Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, durch grosse Siege. Er ist niedergekniet und hat sich gelagert wie ein Löwe und wie eine Löwin; wer will sich wider ihn auflehnen? Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden noch der Stab des Herrschers von seinen Füssen, bis dass der Held komme; und demselben werden die Völker anhangen» (1.Mo 49,9-–10). Der Held vom Stamm Juda, das ist unser Herr Jesus Christus!
«Die Wurzel Davids.» Die Wurzel von Davids ewigem Königtum hat überwunden. Ganz konkret bedeutet das: All das, was der erste Adam durch seinen Ungehorsam verloren hat – das ewige Leben, die Gemeinschaft mit Gott, das Paradies –, hat der letzte Adam, Jesus Christus, durch Seinen Gehorsam wieder zurückererbt. Er ward gehorsam bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Damit wurde für diejenigen, die darauf warten, ein Erbe frei (vgl. Hebr 9,15–18).
Der Sohn Gottes ist in die Welt gekommen und hat die Ursache, die zum Verlust des ewigen Erbes führte – die Sünde –, hinweggetragen. «Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt» (Joh 1,29). Jesus starb am Kreuz von Golgatha. Er neigte Sein Haupt und verschied. Es steht nicht: «Er verschied und neigte sein Haupt», denn Er legte Sein Leben freiwillig ab. Niemand nahm es von Ihm. Nun ist das Erbe frei, denn der Erblasser ist tot. Doch siehe da: Jesus blieb nicht im Tod! Er ist auferstanden und lebt! Folglich ist Er der einzige rechtmässige Erbe, und darum ist niemand ausser Ihm würdig, das Buch, das Testament, zu öffnen.
Wie wunderbar: Er hat um unserer Sünde willen den Tod erlitten, und damit wurde das Erbe für Seine Nachkommenschaft frei. Dann ist Er aus dem Tode auferstanden, und da trat das Einzigartige ein: Er selbst war und ist der Erbe aller Dinge. Römer 8,17 sagt: «Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi.»
Nun sieht Johannes den Überwinder, den starken Sieger: «Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen wie geschlachtet, das sieben Hörner hatte und sieben Augen, welche die sieben Geister Gottes sind, die gesandt sind über die ganze Erde. Und es kam und nahm das Buch» (Offb 5,6).
Johannes sieht hier nicht den Löwen, sondern das Lamm. Welch ein Gegensatz sind Löwe und Lamm! Ein Löwe ist königlich, ein Lamm hilflos und schwach. Das ungeheure Paradoxon, auf dem die Erlösung, ja die Gesamtgemeinde beruht – all das, was das Neue Testament mit dem Wort «Kreuz» verbindet –, wird dem Apostel Johannes hier neu und tiefer als je zuvor enthüllt: Der Löwe als das Lamm; der König der Könige, der Fürst des Lebens als das Schlachtopfer.
Wo steht denn das Lamm? Ganz zentral. Man muss auf den Ausdruck «inmitten» achten (s. oben). Jesus Christus ist das Zentrum.
Wenn nun aber Johannes das Lamm «wie geschlachtet» sieht, so weist das auf die ewige Gültigkeit der Erlösung hin. Das vergossene Blut Jesu hat nie endende Wirkungen (vgl. Hebr 19,12). Und weil an Ihm das Gericht über die Sünde der ganzen Welt vollzogen wurde, ist Er auch allein würdig, diese kreuzesfeindliche Welt, die sich ausserhalb Seines Werkes stellte, zu richten. So sehen wir hier nun durch die Augen des Johannes das Lamm geschlachtet und doch in Kraft und Herrlichkeit, denn es heisst: «… das sieben Hörner hatte … sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande.» Die sieben Hörner bedeuten Macht und eine alles besiegende Kraft.
Merkwürdigerweise wird hier für «Lamm» das griechische Wort «arnios» gebraucht. Das bedeutet Lieblichkeit und Sanftmut, im Gegensatz dazu wird im Neuen Testament sonst das Wort «amnos» verwendet. Die sieben Hörner zeigen das Wesen des Lammes in göttlicher Kraft und Macht. Sieben ist die göttliche Vollzahl. Paulus sagt: «… Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit» (1.Kor 1,24). Also nicht etwa mechanische, sondern göttliche Macht.
«… und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes, gesandt in alle Lande» (Offb 5,6). Wie wunderbar wird hier die Fülle der Gottheit offenbart! So hat Jesaja Gott 800 Jahre vorher geschaut. Die Weissagung von den sieben Geistern steht in Jesaja 11,1–2: «Und es wird eine Rute aufgehen von dem Stamm Isais, und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen; auf welchem wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn.» Diese sieben Geister Gottes ruhen auf dem Spross, der aus der Wurzel Davids kommt. Die sieben Augen Gottes, die da sind die sieben Geister Gottes, sind «gesandt in alle Lande». Das Lamm durchdringt die ganze Welt.
Fassen wir zusammen: Die sieben Hörner und die sieben Geister bedeuten, dass Er vollkommene geistliche Kraft hat. In Sacharja 3,8–9 wird auch in diesem Sinne vom Lamm geweissagt. Wenn wir in Offenbarung 4 die zentrale Stellung desjenigen sehen, der auf dem Thron sitzt, so wird hier das Lamm als das Zentrum der Herrlichkeit Gottes offenbart: «Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen» (Offb 5,6). Das letzte Wort dürfen wir nicht überlesen. Das Lamm steht! Obwohl geschlachtet, erwürgt um unserer Sünden willen, lebt das Lamm. Er ist auferstanden! Jesus lebt und mit Ihm auch ich.