Der Bibeltext wird dem eigenen Urteil unterworfen und dem eigenen Denken angepasst. Was nach menschlicher Meinung nicht sein kann, darf dann auch nicht in der Bibel stehen. Doch wo bleibt das Wunder? Die Argumentation in Sachen «Jungfrauengeburt» ist daher überhaupt nicht neu! Seit über 300 Jahren rütteln bis heute unermüdlich liberale (bibelkritische) Theologen an Jesaja 7,14 – die messianische Prophetie soll fallen. So erklärte 2002 die damalige Landesbischöfin von Hannover und spätere Ratsvorsitzende der EKD, Professorin Margot Kässmann, dass die Vorstellung von der Jungfrauengeburt «überholt» sei. Das Ergebnis der historisch-kritischen Bibelforschung sei es, dass es sich ganz einfach um eine «junge Frau» gehandelt habe. Erst aus der griechischen Gedankenwelt sei die Vorstellung der Jungfrau erklärbar. Sinn der Weihnachtsgeschichte sei es, an Elend und arme Menschen zu erinnern. Die Geburt Jesu sei aber ein Geheimnis.
Auch unter Evangelikalen ist Frau Kässmann durchaus beliebt und man fragt sich, ob die Leute überhaupt verstehen, was hier gesagt und behauptet wird? Das Grundbekenntnis des christlichen Glaubens wird hier mit einem Handstreich für erledigt erklärt! Da kaum einer in der EKD noch an die Jungfrauengeburt glaubt, wundert es auch nicht, dass Frau Kässmann 2012 zur Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017 ernannt wurde. Weltweit ist sie im Reformationsjahr eine gefragte Rednerin. Natürlich liess es sich der SPIEGEL nicht nehmen, die prominenteste Theologin der EKD zu interviewen. Eine der ersten Fragen der SPIEGEL-Redakteure galt der Jungfrauengeburt. Frau Kässmanns Antwort: «Da bin ich ganz Theologin des 21. Jahrhunderts. Ich glaube, dass Maria eine junge Frau war, die Gott vollkommen vertraut hat. Aber dass sie im medizinischen Sinne Jungfrau war, das glaube ich nicht … Ich denke, dass Josef im biologischen Sinne der Vater Jesu war. Gott war es im geistigen.»
Genauso urteilt auch Professor Heinrich Bedford-Strohm, der EKD-Ratsvorsitzende und Landesbischof von München. Für ihn ist es «kein zentraler Bestandteil des Glaubens, ob die Schwangerschaft Marias mit oder ohne Geschlechtsverkehr zustande gekommen ist … es geht darum zu zeigen, dass dieser Mensch vom Geist Gottes beseelt war, und das von Anfang an.»
Es verwundert daher kaum, dass man landauf und landab von vielen Pfarrern und Pfarrerinnen hören kann: «Jungfrau ist nur eine falsche Übersetzung! Das heisst in Wirklichkeit ‹junge Frau›.» Es wird dann zudem behauptet, dass kein Prophet (auch Jesaja nicht) etwas vorhersagen konnte, was sich erst Jahrhunderte später erfüllt hätte. Es gebe keine Prophetie in diesem Sinne. Natürlich sei die Zeugung Jesu ganz natürlich erfolgt, und es sei dabei völlig egal, mit wem Maria vor ihrer Ehe verkehrt habe. Der Weihnachtsbericht mit der Jungfrauengeburt sei ein «Plagiat». Natürlich sei die Zeugung Jesu auf natürliche Weise erfolgt. Wie denn auch sonst? Man schätzt, dass die Mehrheit der evangelischen und eine Vielzahl der katholischen Universitätstheologen sowie die im Kirchendienst stehenden ordinierten Theologen die Jungfrauengeburt kategorisch ablehnen, obwohl sie dies aber im Credo (Glaubensbekenntnis) ausdrücklich bekennen. Aber ist das nicht ein Widerspruch?
In einem SPIEGEL-Interview wurde der evangelische Neutestamentler Professor em. Andreas Lindemann (Kirchliche Hochschule Bethel) gefragt: «Ist es für Sie ein Problem, einerseits überzeugt zu sein, dass es keine Jungfrauengeburt gegeben hat, und andererseits das Glaubensbekenntnis zu sprechen: ‹Geboren von der Jungfrau Maria›?» Lindemanns Antwort: «Nein, überhaupt nicht. Glauben, das kann ich auch als kritischer Exeget tun, weil Matthäus und Lukas erzählend die Glaubensüberzeugungen vermitteln, dass Jesus in noch ganz anderer Weise als vor ihm Johannes der Täufer mit dem Heiligen Geist und mit Gott verbunden ist.» Da reibt man sich aber nun doch verwundert die Augen. Man spricht das Credo, aber meint genau das Gegenteil, wenn man bekennt «geboren von der Jungfrau». Die Konsequenz einer solchen Auffassung ist, dass Maria das Kind auf natürlichem Wege bekommen haben muss.
Dieser Sichtweise widerspricht der Heidelberger Neutestamentler Professor em. Klaus Berger energisch:
«In zwei Evangelien ist ausdrücklich erwähnt, dass Maria keinen Mann hatte, beziehungsweise nicht mit Joseph verkehrt hatte (Lukas 1,34; Matthäus 1,18), sondern dass Jesus vom Heiligen Geist her komme. Nirgends im Neuen Testament wird Joseph wirklich als Vater Jesu bezeichnet, in Markus 6,3 heisst Jesus für damaligen Sprachgebrauch völlig ungewöhnlich Sohn Mariens, und in Johannes 6,42 wird die Meinung, Jesus sei Josephs Sohn, als Missverständnis gehandelt; er kommt vielmehr vom Himmel.»
Berger sagt deutlich, Jesaja 7,14 («Siehe, eine Jungfrau wird …») sei «nicht der Ursprung der Kindheitsgeschichten, so als seien diese erst von den fabulierenden Evangelisten aus dieser Stelle heraus gesponnen worden».
«Vielmehr zitiert der Evangelist Matthäus diese Stelle (in 1,22), um den Glauben der Christen so zu kommentieren und die Geschehnisse als dessen Erfüllung darzustellen. Matthäus und Lukas haben ihre Berichte von der ältesten judenchristlichen Gemeinde übernommen. Diese wurden nicht ausgedacht, weil man die Jesaja-Stelle erfüllt sehen wollte, sondern es war eindeutig umgekehrt: Erst waren die Berichte, dann das sogenannte Reflexionszitat, mit dem die Berichte auf die Verheissung hin reflektiert werden … Dass eine junge Frau empfängt und ein Kind bekommt, ist ein Allerweltsgeschehen. Daran hätte man nicht die Immanuel-Weissagung knüpfen können. In der griechischen Bibel, die Matthäus vor sich hatte, steht dann eindeutig Jungfrau … Es ist hier wie auch sonst überaus fragwürdig, biblische Anschauungen als überholt wegzuschieben, weil man meint, dem modernen Menschen alle Stolpersteine aus dem Weg räumen zu müssen.»
Wir müssen den Jesajatext und die Berichte der Evangelisten wirklich aufmerksam im Zusammenhang betrachten und lesen! Den ausgezeichneten theologischen Ausführungen von Pastor Wolfgang Wegert (Gemeinde Arche Hamburg) kann man dabei nur zustimmen: «Jesus Christus ist vollkommen Gott und vollkommen Mensch in einer Person und wird es für immer bleiben. Eine solche Person hat es nie zuvor in der Welt gegeben und wird es auch nicht geben. Jesus ist absolut einzigartig! Wie konnte es denn zu so einem wunderbaren Wesen kommen?» – Weil Er von Gott gesandt war und eine irdische Mutter, aber eben keinen irdischen Vater hatte. –«Darum sagt der Engel dem verunsicherten Joseph, der mit seiner Verlobten noch nicht geschlafen hatte, dass das Kind nicht von einem anderen Mann, sondern von Gott stammt. Wörtlich sagte der Engel zu Joseph: ‹Fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist› (Matthäus 1,20). Und zu Maria selbst sagte der Engel noch dies: ‹Darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden› (Lukas 1,35). Das Kind in der Krippe ist nicht irgendein Kind, es ist ein heiliges Kind. Es ist von Gott gezeugt und von einer Jungfrau geboren. Darum ist Jesus Gottes Sohn!»
Die Bibel berichtet von dem Wunder der Jungfrauengeburt, so Pastor Wegert weiter, «nicht aus Sensationsgründen, sondern weil es für die Menschen zwingend notwendig, ja unerlässlich war». Jesus ist einzigartig, weil Er ganz Gott ist (Er stammt von Gott) und gleichzeitig ganz Mensch (durch Seine Geburt). Jesus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Wäre Er als normaler Mensch gezeugt worden, hätte Er nicht auch ganz Gott sein können. Warum ist das wichtig? «Das bekannte Weihnachtslied ‹Es ist ein Ros entsprungen› erklärt das in seinem dritten Vers sehr einprägsam mit diesen Worten: ‹Wahr’ Mensch und wahrer Gott hilft uns aus allen Leiden, rettet von Sünd’ und Tod.› Wer also rettet uns von unserer Sünde? Der wahre Mensch und wahre Gott! Und wer ist das? Kein anderer als Jesus Christus. Er ist der einzigartige, der zwei Naturen in Seiner Person vereinigt, nämlich göttliche und menschliche Natur. … die beiden Naturen existieren in Ihm getrennt und unvermischt nebeneinander. Darum ist Christus einerseits ganz und gar Gott und andererseits ganz und gar Mensch. Ja, wahrer Mensch und wahrer Gott.» Der bekannte Theologe Karl Barth meinte, dass jemand, der auf die Jungfrauengeburt «verzichten» kann, vom christlichen Glauben Entscheidendes nicht begriffen habe. Ebenso urteilte der Neutestamentler Adolf Schlatter, denn letztlich gehe es bei alledem im Kern um die Gottesfrage. Traue ich es Gott zu, dass Er dieses Wunder vollbringen kann oder nicht?