Was hat das verfolgte Täufertum gebracht? (Teil 5)

Ein Rückblick auf die Geschichte der Täufer von Zürich – genannt Schweizer Brüder – zur Reformationszeit.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als seien die Täufer von Zürich und Zollikon gescheitert. Die drei Leiter der Bewegung sind vertrieben oder umgebracht worden, die Bewohner von Zollikon sind «zur Vernunft zurückgekehrt». Die politische Macht hat sich mit unerhörter Brutalität durchgesetzt. Eine totale Niederlage?

Der Schein trügt. Das Life-Magazin hatte vor Jahren auf der Titelseite ein Bild der Kirche Zollikon, versehen mit der Schlagzeile: «Zollikon – the cradle of baptism» (Zollikon – die Wiege des Täufertums). Dieser Titel ist nicht ganz richtig. Der eigentliche, praktische Anfang des Täufertums liegt an der Neustadtgasse in Zürich, als am Abend des 21. Januar 1525 die ersten «Brüder in Christo» sich gegenseitig im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes tauften. Aber bereits im Laufe der folgenden Woche entstand in Zollikon eine Gemeinschaft, die alle Eigenschaften einer Freikirche verwirklicht. Fritz Blanke stellt fest, dass die Bruderschaft von Zollikon predigte, taufte, das Abendmahl feierte und Gemeindezucht wahrnahm. Dies seien die vier Merkmale einer unabhängigen christlichen Gemeinde. Diese Beobachtung ist richtig. Zollikon ist der Ort, wo die erste organisierte Freikirche der Weltgeschichte der Neuzeit entstanden ist. 

Und das ist nicht alles. Die «Brüder» von Zürich und Zollikon haben nicht nur die Grundlagen des praktischen Gemeindelebens, das die Bibel lehrt, neu entdeckt. Sie haben uns auch auf anderen Gebieten den Weg zur biblischen Praxis gewiesen:

– Die wahre Gemeinde setzt sich aus denen zusammen, die sich bekehrt haben. (Die «Brüder in Christo» hätten zu diesem Satz den Nachsatz hinzugefügt: «und getauft sind». Für sie gehörte es einfach zur Identität des Christen, dass er seine Bekehrung mit der Taufe bekennt.)

– Allgemeines Priestertum aller Gläubigen.

– Der Missionsbefehl von Jesus Christus (Mt 28,18–20) gilt jedem wahren Christen.

– Wichtigkeit des persönlichen Bibelstudiums und der Hauskreis als Ort, wo gemeinsam über das Wort Gottes nachgedacht wird.

– Die Gemeinde sorgt aus ihren eigenen Mitteln für ihre Bedürftigen, ohne die Finanzen des Staates zu beanspruchen. 

– Unabhängigkeit der Ortsgemeinde vom Staat in Bezug auf Finanzierung und Organisation.

Die meisten dieser Elemente sind für die Evangelikalen von heute Selbstverständlichkeiten des Gemeindelebens. Nur wenige wissen, zu welch hohem Preis diese Praxis erkauft worden ist. 

Auch in zeitlicher Hinsicht hat das Zeugnis der «Brüder» sehr weite Kreise gezogen. Weder die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts noch die Millionen von amerikanischen Baptisten, die heute einen gesegneten Einfluss auf die Weltmission ausüben, wären ohne sie denkbar. 

Damit ist noch nichts gesagt über die kindliche Ergebenheit und den ausserordentlichen Mut ungezählter Täufer der Reformationszeit angesichts grausamster Leiden, die ihnen von Klerus und Staat zugefügt wurden. Ebenso ist nichts gesagt über den brennenden missionarischen Eifer für verlorene Menschen, den diese Geschwister an den Tag gelegt haben. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass die «Brüder in Christo» – selbst ihre Leiter – zum Zeitpunkt ihres öffentlichen Auftretens erst wenige Jahre im Glauben standen. Die Reife und Ausgeglichenheit ihrer Lehre ist umso bemerkenswerter. Sie verfügten nicht – wie wir heute – über Berge von theologischer Literatur, Konkordanzen, Kommentare usw. Den allergrössten Teil ihrer Erkenntnisse und ihres praktischen Beispiels bezogen sie schlicht und einfach aus der Bibel selbst. Angesicht dessen muss ihre Liebe zum Herrn unserer Christengeneration die Schamröte ins Gesicht treiben. Wir können uns nicht ehrlich mit dem Zeugnis dieser Geschwister im Glauben befassen, ohne Busse zu tun über unsere Lauheit. Von ihrem praktischen Beispiel haben wir sehr viel zu lernen.

Ein letzter Punkt: Unsere Gesellschaft betrachtet die Trennung von Kirche und Staat als eine Errungenschaft der «Aufklärung». Dieses Verständnis ist falsch. Die «Schweizer Brüder» wussten anhand der Schrift, dass sowohl die christliche Gemeinde als auch der Staat von Gott gegebene Institutionen sind. Beide sind demnach zu respektieren, ihrem Wesen nach jedoch zu trennen. Diese Erkenntnis gewannen die «Brüder» zweieinhalb Jahrhunderte vor den Männern, die die humanistische Geistesströmung der «Aufklärung» ausgelöst haben. Ehre, wem Ehre gebührt (Röm 13,7).

Als abschliessende Würdigung der Geschichte des Täufertums des 16. Jahrhunderts hält G. H. Williams – selbst kein Täufer – in seinem eindrücklichen Werk The Radical Reformation fest: «Die grosse Mehrheit der mächtigen Schar von Männern und Frauen, deren Leben wir skizziert haben, vermitteln einen überwältigenden Eindruck von ihrer Ernsthaftigkeit, ihres oft einsamen Mutes und ihrer Überzeugung. Sie waren sich einer göttlichen Führung bewusst, die ihr Handeln bestimmte. Die Trostlosigkeit, das Elend, die Brutalität und der Wahnsinn der grossen Szenerie, auf der sie ihre Rolle spielten, wurden für sie erleichtert durch die intensive Gewissheit in ihren Herzen, dass über dem Kreuz, das sie zu tragen hatten, Gott über den Seinen wacht. […] die tapferen Männer und Frauen der radikalen Reformation verdienen es, dass ihr Zeugnis vor den weniger parteiischen Gerichtshöfen eines späteren Zeitalters neu bewertet werden wird.»

Die Ereignisse von Zürich und Zollikon zwischen 1523 und 1527 erinnern uns an die Worte aus 1. Johannes 2,17: «Die Welt vergeht und ihre Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.»

Der Autor, ein Schweizer, der sich eingehend mit dem Täufertum beschäftigt hat, ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym und im Hintergrund bleiben, damit das Licht Jesu Christi durch das Zeugnis der Täufer umso heller hervorstrahlt.

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