Dieser geistliche Kampf wird, je näher das Ende kommt, auch umso heftiger und gefährlicher. Der Wohlstand, den wir im Westen geniessen, und die Verführung, die uns von allen Seiten umgibt, können unseren Blick auf diese Realität verschleiern. Aber das Neue Testament macht deutlich, dass die Zeit seit dem Kreuz bis zur Wiederkunft Jesu eine «böse» Endzeit ist, die immer schlimmer wird (vgl. Hebr 1,2; Eph 5,16; Mt 24-25). Paulus betont in einem Brief in Bezug auf die Gemeinde, dass «in den letzten Tagen schwere Zeiten eintreten werden» (2.Tim 3,1), in denen «die Menschen werden selbstsüchtig sein, geldliebend, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, unheilig, ohne natürliche Liebe, unversöhnlich, Verleumder, unenthaltsam, grausam, das Gute nicht liebend, Verräter, verwegen, aufgeblasen, mehr das Vergnügen liebend als Gott, die eine Form der Gottseligkeit haben, deren Kraft aber verleugnen» (2.Tim 3,2-5).
Beachten Sie, dass u.a. Lieblosigkeit, Hochmut und Unversöhnlichkeit in den letzten Tagen zunehmen werden. Ich weiss nicht, wie weit wir in der Endzeit schon fortgeschritten sind, aber eines ist doch klar: Wir sind dem Ende heute näher als noch vor 2.000 Jahren; und die Zunahme oben genannter Eigenschaften in unseren Tagen sollte uns zumindest zu denken geben. Wir dürfen uns nicht wundern, dass das Christentum heute zerstrittener erscheint als noch am Anfang. Die Zeichen der letzten Tage unterwandern die Gemeinde; und es wird je länger desto schlimmer. Dies sagt die biblische Prophetie.
Deshalb ist es geradezu ein Wunder, dass Christen sich bis heute überhaupt in irgendeiner Sache einig sind! Die Frage im Titel ist falsch gestellt. Unter Berücksichtigung der begrenzten Natur des Menschen, der unendlichen Andersartigkeit Gottes, der dämonischen Macht in der unsichtbaren Welt und der biblischen Ankündigungen für die Endzeit sollten wir lieber fragen: Warum sind Christen überhaupt so oft eins? Die Antwort lautet: Dank des Heiligen Geistes.
Der Heilige Geist ist der unterschätzte Gott. Manche schreiben Ihm ihre absurden Ideen zu, andere wiederum erwarten gar nichts von Ihm. Dabei ist unser Gott kein zweieiner, sondern ein dreieiner Gott – und das ist die Garantie für unsere Sicherheit. Durch den Heiligen Geist wohnt die Fülle Gottes in uns (Eph 1,13-14.17; 3,14-19). Er ist der Tröster und Beistand, der unsere unwilligen, stürmischen und schwachen Herzen verwandelt, ruhig gemacht und versiegelt hat. Deswegen können wir Gottes Wort eben doch verstehen (1.Kor 2,11). Und darum sind wir mehr als die grössten Propheten des Alten Bundes und können Grösseres tun als die Wunder Jesu (Lk 7,28; Joh 14,12). In uns wohnt Gott selbst, und das macht uns schon seit 2.000 Jahren fähig, als Volk ohne sichtbaren König, als «Religion» ohne sichtbares Heiligtum und als eine organische Einheit ohne Blutsverwandtschaft zu funktionieren. Durch den Glauben an Jesus Christus sind wir in der Lage, eins zu sein mit Menschen, von denen wir Tausende Jahre oder Tausende Kilometer oder Tausende kulturelle Unterschiede entfernt sind. Dieses Wunder ist viel grösser als alles, was unter dem Alten Bund geschehen ist!
Uns eint weder das Schwert noch die Angst noch eine Nationalität, sondern der Heilige Geist Gottes. Die Kraft, die Jesus Christus aus den Toten auferweckt hat, wacht schon seit 2.000 Jahren darüber, dass die Erlösten den Vater «im Geist und in der Wahrheit» anbeten, den Namen Jesu bekennen und auf Seine Wiederkunft warten. Das ist das grösste Wunder, das die unsichtbare Welt jemals gesehen hat (Eph 3,9-10): Gottes grenzenlose Fülle in schwachen, einst gefallenen, jetzt noch begrenzten Menschen.
Das alles ist ja schön und gut, mag man jetzt einwenden. Aber trotz des Heiligen Geistes ist da doch die Tatsache, dass wir Gläubige nur allzu oft doch nicht einig im Geist sind. Was können wir dagegen tun? Es gibt meines Erachtens nur eine Antwort. Diese bezieht sich allerdings nur auf (insbesondere theologische) Meinungsverschiedenheiten zwischen Christen. Es geht also nicht um die Frage, was wir tun sollten, wenn andere Gläubige sich durch ihr Verhalten, ihre Taten, ihre Worte oder ihre Unterlassungen gegen uns versündigen. Und es geht auch nicht um Christen, die versuchen, Sünden wie zum Beispiel Unzucht, Habsucht oder dergleichen unter dem Deckmantel des Evangeliums zu verharmlosen oder zu rechtfertigen.
Zuerst einmal müssen wir das Folgende einsehen: Es gibt einen guten Grund, warum viele Christen so streitsüchtig erscheinen. Es ist ihr Auftrag. Paulus betont, dass gute Gemeindeleiter den falschen Lehrern «den Mund stopfen» und abgeirrte Gläubige «streng» zurechtweisen müssen (Tit 1,11.13). Wie Paulus sollen sie «nebeneingeführten falschen» Brüdern «nicht eine Stunde durch Unterwürfigkeit» nachgeben (Gal 2,4-5). Christen, insbesondere Gemeindeleiter und Prediger, können und dürfen es sich nicht leisten, Kompromisse einzugehen (vgl. Tit 2,7). Gläubige müssen für die gesunde Lehre kämpfen (2.Tim 1,13; Tit 1,9; 2,1). Die Frage, die sich hier aufdrängt: Wer hat nun im Dschungel der christlichen Konfessionen und Glaubensbekenntnisse die eine gesunde Lehre und wer soll bekämpft werden? – Hinweise finden wir in der Bibel.
Während seiner Gefangenschaft in Rom erlebte Paulus, dass einige Christen (oder Scheinchristen) das Evangelium verkündigten, um ihm zu schaden. Darüber freute er sich, denn für ihn war die Hauptsache, dass Christus verkündigt wurde, «sei es aus Vorwand oder in Wahrheit» (Phil 1,15-18). Paulus machte sich keine Mühe, die Streitsüchtigen zurechtzuweisen. Diese Menschen gehörten für ihn nicht zu jenen, denen man «den Mund stopfen» sollte. Ein Merkmal gesunder Lehre war für Paulus demnach nicht, dass jemand in seinem «Lager» war, sondern dass jemand Jesus Christus predigte. Die Apostelbriefe machen deutlich, dass Christus predigen dasselbe ist wie das Evangelium zu verkündigen (vgl. Röm 1,9.16; 10,15.16; 15,20; 16,25; 1.Kor 9,12; 2.Kor 11,4; Gal 1,6-11; 2,5.14 u.a.). Im letzten Brief des Apostels Paulus sehen wir, dass die Predigt des Evangeliums von Jesus Christus eng mit der gesunden Lehre verknüpft ist (2.Tim 1,8; 2,8; 4,5). Wer Jesus erkannt hat, hat das Evangelium erkannt; wer das Evangelium erkannt hat, hat die gesunde Lehre erkannt – und umgekehrt. Gesunde Lehre ist das Evangelium!
Wenn Paulus also im Brief an die Epheser von uns Christen erwartet, «die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens» (Eph 4,3), dann ist dies nie und nimmer ohne das Evangelium von Jesus Christus möglich. Im Folgenden zeigt Paulus auf, warum Christen eins sein können und müssen, denn wir sind 1) ein Leib, wir glauben 2) an einen Geist, wir haben 3) eine Hoffnung, wir dienen 4) einem Herrn, wir teilen 5) einen Glauben, wir praktizieren 6) eine Taufe und wir haben 7) einen «Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in uns allen ist» (Eph 4,4-6). Man kann darin eine Zusammenfassung der gesunden Lehre und des Evangeliums sehen.
Die grosse Herausforderung ist aber, diesen Punkten eine konkrete Füllung zu geben. Ein heisses Eisen ist zum Beispiel die eine Taufe. Schliesst Paulus hiermit Kindertaufe aus oder nicht? Oder was ist mit der einen Hoffnung? Muss sie eine Entrückung vor der Trübsal beinhalten? Das Prinzip, mit dem alles steht und fällt, ist hier die prüfende Frage: Wird Christus verkündigt?
Bleiben wir beim Streitpunkt Kindertaufe. Martin Luther hat sich vehement für die Kindertaufe eingesetzt und gegen Wiedertäufer gewettert. Widersprach er da nicht der einen Taufe? Diese heikle Frage dient nun gut als Gradmesser dafür, ob wir im Umgang mit anderen Gläubigen eher von unseren dogmatischen Systemen bestimmt sind oder vom Anliegen des Apostels Paulus: Hauptsache, Christus wird verkündigt!
In Markus 16 sehen wir, dass Gläubige getauft werden sollen. In Apostelgeschichte 16 sehen wir, dass ganze Familien getauft wurden. Einerseits: Können wir mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass da keine kleinen Kinder dabei waren? Andererseits: Können wir mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass da überhaupt kleine Kinder dabei waren? 2.000 Jahre später wissen wir es nicht sicher. Die eine Taufe mag wohl betonen, dass Christen taufen und getauft werden müssen. Aber es scheint, wenn man die verschiedenen Positionen unter die Lupe nimmt, dass man zumindest darüber diskutieren kann, ob nur der gläubig gewordene Erwachsene oder auch die Kinder seines ganzen Hauses mit ihm getauft werden sollen.
Erlauben wir uns nun etwa zu sagen, Martin Luther habe den Herrn Jesus Christus nicht verkündigt? Ein mögliches Problem in unserer Beurteilung anderer Gläubigen ist, dass wir Einheit auf einer unrealistischen Grundlage verlangen. Wir akzeptieren nur die Christen, die in nahezu jeder Detailfrage mit uns übereinstimmen – wir machen uns fehlbare Geschöpfe damit selbst zum Massstab aller Dinge. Dabei ist der Massstab für Einheit viel einfacher: es ist das Evangelium Jesu Christi. Das heisst nicht, dass wir Irrtümer, soweit wir es beurteilen können, nicht ansprechen oder gar Sünde tolerieren sollen. Wenn wir einfach alle stehenlassen, weil sie den Namen «Jesus» erwähnen, kommen wir nie weiter. Aber wir sollten schon sehr sorgfältig prüfen, wann es wirklich nötig ist zu kämpfen, und wann es nötig ist, Liebe, Nachsicht und Frieden walten zu lassen. Und hier kommen wir nun endlich zur Antwort, wie wir Einheit wahren können.
Die Antwort bzw. das Schlüsselwort heisst Demut. Manchmal müssen wir uns einfach zurücknehmen und uns und unseren Stolz für gestorben halten (Röm 6,11). Das ist nicht einfach, aber notwendig. Wenn wir den Jakobusbrief aufmerksam lesen, sehen wir, dass die Empfänger wohl so ihre Probleme mit Stolz und Besserwisserei hatten. Jeder wollte den anderen belehren und ein Lehrer der Gemeinde sein. Nun fragt aber Jakobus diejenigen, die so gerne das Mass aller Dinge wären: «Wer ist weise und verständig unter euch? Er zeige aus dem guten Wandel seine Werke in Sanftmut der Weisheit» (Jak 3,13). Damit wird nun unser Stolz angegriffen: Unsere Weisheit und unser Verstand in Lehrfragen erweist sich nicht in unserer detaillierten Dogmatik, sondern darin, wie sanftmütig wir mit anderen umgehen. Das ist wahre Weisheit.
«Wenn ihr aber bitteren Neid und Streitsucht in eurem Herzen habt, so rühmt euch nicht und lügt nicht gegen die Wahrheit. Dies ist nicht die Weisheit, die von oben herabkommt, sondern eine irdische, sinnliche, teuflische. Denn wo Neid und Streitsucht ist, da ist Zerrüttung und jede schlechte Tat. Die Weisheit von oben aber ist erstens rein, dann friedsam, milde, folgsam, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ungeheuchelt. Die Frucht der Gerechtigkeit in Frieden aber wird denen gesät, die Frieden stiften» (Jak 3,15-18).
Wohlgemerkt, diese Worte stehen im Kapitel, in dem Jakobus darüber redet, dass nicht viele Lehrer werden sollten, da wir alle im Gebrauch der Zunge «oft» straucheln. Einheit im Geist ist möglich, wenn wir wirkliche Weisheit von oben an den Tag legen. Und diese Weisheit zeigt sich nicht in Streitsucht, Selbstbehauptung oder Besserwisserei, sondern im Willen, Sanftmut walten zu lassen, Barmherzigkeit zu üben und den Frieden zu suchen. Und damit fängt Einheit nicht in erster Linie bei dem Christen an, der sich unserer Meinung nach in seiner Theologie irrt und unbedingt korrigiert werden muss, sondern bei uns selbst – bei jedem ganz persönlich.
Gute Christen und Bibellehrer sind Friedensstifter, die sich darüber freuen, wenn Jesus Christus verkündigt wird. So sagt Paulus: «Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen worden seid, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander ertragend in Liebe, euch befleissigend, die Einheit des Geistes zu bewahren in dem Band des Friedens» (Eph 4,1-3).
Es ist die Herausforderung für einen jeden von uns, nicht stolz zu sein, sondern demütig; nicht streitsüchtig, sondern sanftmütig; nicht unnachgiebig, sondern barmherzig. Es ist einfach, andere Gläubige auf Kanzeln, in E-Mails, Rundbriefen, «vertraulichen» Gesprächen oder Zeitschriften anzuschwärzen. Wahre Grösse und Weisheit ist nach Jakobus etwas ganz anderes.
Wie Paulus denkt, so darf auch unsere Haltung über jene Christus-Nachfolger sein, mit denen wir das Heu vielleicht nicht unbedingt auf derselben Bühne haben: «Was denn? Wird doch auf alle Weise, sei es aus Vorwand oder in Wahrheit, Christus verkündigt, und darüber freue ich mich, ja, ich werde mich auch freuen» (Phil 1,18).