Von den Hausgenossen der Chloe wurde Paulus ebenso über schwere Probleme innerhalb der Gemeinde unterrichtet (1.Kor 1,11) wie durch einen Brief der Korinther selbst (7,1). Daraufhin schrieb Paulus den ersten Korintherbrief. Es ist ein stark korrigierender Brief. In den ersten neun Versen versuchte Paulus, den Fokus darauf zu legen, wessen Gemeinde es überhaupt war, nämlich die Gemeinde Jesu. So schrieb er zehn Mal «in Christus» oder «in ihm». Aber das ist praktisch schon die letzte gute Sache, die er bis zum Ende des Briefes über die Gemeinde in Korinth sagte. Alles, was sie taten – ausser dass sie Jesus angenommen hatten –, war falsch. Paulus schrieb von Splittergruppen, einer inzestuösen Beziehung, von der die Gläubigen in Korinth wussten, aber nichts dagegen unternahmen, und von Rechtsstreitigkeiten unter Gläubigen. Er musste sich mit Scheidung und Wiederheirat von Christen befassen. Manche missbrauchten ihre christliche Freiheit, um zu tun, was sie wollten. Paulus musste sie korrigieren und ihnen den biblischen Grundsatz lehren, dass grosse geistliche Privilegien eine grosse geistliche Verantwortung mit sich bringen. Einige aus der Gemeinde in Korinth kamen sogar betrunken zum Tisch des Herrn.
Ihr gemeinsamer «Anbetungsdienst» glich nicht nur einem Basar, er war auch dämonisch beeinflusst. In drei Kapiteln belehrte Paulus sie über geistliche Gaben: «Darum lasse ich euch wissen, dass niemand, der im Geist Gottes redet, Jesus verflucht nennt; es kann aber auch niemand Jesus Herrn nennen als nur im Heiligen Geist» (1.Kor 12,3).
Zwei Probleme gab es. Zum einen wurden angeblich unter dem Einfluss des Heiligen Geistes gotteslästerliche «Weissagungen» in der Gemeinde gesprochen. Zum anderen besass niemand den geistlichen Durchblick, dass Irrlehren verbreitet wurden. Die Krönung aber war, dass sich in der Gemeinde in Korinth einige Leute befanden, die eine ähnliche Lehre vertraten wie die Sadduzäer – nämlich, dass es keine Auferstehung gab (1.Kor 15). Unter anderem erinnerte Paulus sie: «Wenn es wirklich keine Auferstehung der Toten gibt, so ist auch Christus nicht auferstanden! Wenn aber Christus nicht auferstanden ist, so ist unsere Verkündigung vergeblich, und vergeblich auch euer Glaube!» (1.Kor 15,13–14). Warum nannten sie sich Christen, wenn Christus nicht auferstanden war? Warum sollten sie sich überhaupt als christliche Gemeinde versammeln? Warum sollten sie nicht sündigen, wenn es keine Auferstehung und kein Gericht gab?
Zusätzlich zu all diesen Irrlehren finden wir im ganzen Brief die Tatsache, dass die Korinther sehr stolz auf sich waren. Zu sündigen und Busse zu tun, ist eine Sache – eine noch geringere geistliche Ebene ist es jedoch, in erheblichem Masse sowohl arrogant als auch ignorant zu sein. Leute, die sagen, der erste Korintherbrief wäre ihr Lieblingsbuch in der Bibel, freuen sich entweder über den enormen menschlichen und dämonischen Konflikt, oder sie haben das Buch nicht aufmerksam genug gelesen. Natürlich ist dieser Satz stark übertrieben: Der erste Korintherbrief ist wunderbar reich und nützlich, da mehrere der Probleme, die Paulus in Korinth wiederholt begegneten, auch heute noch vielen Gemeinden zusetzen. Er ist ein gottgegebenes Hilfsmittel, um heute dieselben Gemeindeprobleme anzusprechen, mit denen Paulus es wiederholt zu tun bekam.
Aber seine direkte Herangehensweise kam bei seinen ursprünglichen Lesern nicht gut an. Sie waren zutiefst gekränkt – ähnlich wie viele in den Gemeinden heute Anstoss an den Lehren dieses inspirierten Buches nehmen. Aus verschiedenen Texten wissen wir, dass Paulus einen Kurztrip nach Korinth unternahm, um einige ernste Probleme dort zu lösen (vgl. «zum dritten Mal» in 2.Kor 12,14). Diese zweite Reise war eine Katastrophe. Paulus musste eine geistliche Niederlage einstecken – nicht in seinem eigenen Leben, sondern wegen der Hartnäckigkeit der Korinther. Das war der Tiefpunkt seines Dienstes.
Jesus wusste das schon vorher und hatte Paulus bis zu einem gewissen Masse darauf vorbereitet. Als Paulus seinen Dienst in Korinth begann, geschah etwas Ungewöhnliches: «Und der Herr sprach durch ein Gesicht in der Nacht zu Paulus: Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! Denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich habe ein grosses Volk in dieser Stadt!» (Apg 18,9–10).
Dass Jesus einem der Apostel in einer Vision erschien, kam selten vor. Aber dieser Vorfall war noch erstaunlicher, da Paulus zuvor schon häufig geschlagen und einmal sogar gesteinigt worden war, und viele Male musste er aus Städten flüchten. Seit dem Tag seiner Bekehrung wusste er, dass er leiden würde (Apg 9,16). Im zweiten Korintherbrief erzählte Paulus ausserdem, dass er vor vierzehn Jahren einmal in den Himmel entrückt worden war (2.Kor 12,1–2). Dennoch sagte Jesus zu ihm: «Fürchte dich nicht» oder wörtlich: «Höre auf, dich zu fürchten» (Apg 18,9). Wovor sollte sich Paulus noch fürchten, bedenkt man, was er schon alles durchgemacht hatte? Oder anders gefragt: Warum fürchtete sich Paulus in Korinth?
Nimmt man alles zusammen, scheint der wahrscheinlichste Grund zu sein, dass Jesus die geistlichen Entbehrungen kannte, die auf Paulus warteten. Sie würden stärker sein als das, was er bisher erlebt hatte. Ausserdem ist es kein Zufall, dass Paulus im zweiten Korintherbrief mehr über den Teufel und geistliche Kampfführung schrieb als in all seinen anderen Schriften zusammen. Vor ihm lag eine sehr harte Zeit.
Wie unverfroren war es dann von den Korinthern, von Paulus «Empfehlungsbriefe an euch oder Empfehlungsbriefe von euch» zu verlangen (2.Kor 3,1)! In dieser Gemeinde gab es Splittergruppen, Inzest, Rechtsstreitigkeiten, Missbrauch des Tischs des Herrn, dämonisch beeinflusste Weissagungen in den Zusammenkünften sowie die Irrlehre, dass es keine Auferstehung gab. Und sie wollten von Paulus Empfehlungsbriefe? Es war eine absolute Frechheit der Korinther, dass diese fleischlich gesinnten, arroganten Christen von Paulus Referenzen verlangten, auf Grundlage derer sie entschieden, ob sie ihn akzeptieren würden. Das ist möglicherweise der Grund, weshalb mich Gott nicht zum Apostel gemacht hat. Ich bezweifle, dass ich so freundlich geblieben wäre. Aber durch Gottes Gnade liebte Paulus diese eigenwilligen Korinther mit der Liebe, die nur Gott uns für so unliebenswerte Menschen geben kann.