Müssen wir die Prophetie wirklich wörtlich verstehen? (Teil 7)

Die wörtliche Auslegung der biblischen Prophetie und die damit verbundene Lehre von der Entrückung vor der Trübsal ist oft starker Kritik ausgesetzt. Eine Darlegung und Stellungnahme.

In der Zeit nach der Reformation streiften viele Protestanten 1000 Jahre allegorischer Bibelauslegung langsam ab. Zunächst wandten sie die wörtliche Auslegung auf Themen an, die sich auf die Heilslehre bezogen, und anschliessend mehr und mehr auf die ganze Bibel. Im frühen 17. Jahrhundert kehrte man zum Prämillennialismus zurück, weil einige begannen, die wörtliche Hermeneutik auf Offenbarung 20 anzuwenden. Zu jener Zeit erkannten viele Protestanten, dass es für das Volk Israel eine buchstäbliche Zukunft gab, angeführt durch das Lesen der prämillennialistischen Texte der frühen Kirchenväter und in der englischsprachigen Welt durch die Anmerkungen der Geneva Bible.

Obgleich man während der Reformation und der Zeit danach zur wörtlichen Auslegung zurückfand, brauchten Bibelausleger eine Weile, bis sie sich dauerhaft vom allegorischen Einfluss des Mittelalters befreiten. Für den einflussreichen puritanischen Theologen William Perkins «wurde der mittelalterliche vierfache Sinn auf einen zweifachen oder doppelt-wörtlichen Sinn reduziert». Das ähnelte der doppelten Hermeneutik von Augustinus. Die meisten protestantischen Bibelausleger bewegten sich jedoch zunehmend in Richtung der wörtlichen Hermeneutik und handelten in diesem Rahmen, sodass die historische, grammatische, kontextuelle Methode als die protestantische Hermeneutik bezeichnet wird.

Im 17. Jahrhundert zogen die meisten Bibelgelehrten eine wörtliche Auslegungsmethode vor. Dennoch vergingen etwa hundert Jahre, bis dieses Verständnis alle Bereiche der Schriftauslegung beeinflusste, insbesondere die biblische Prophetie. Obschon der Prämillennialismus wieder aufgeblüht war, wurde er dennoch zu grossen Massen von einer Mischung aus wörtlicher und allegorischer Auslegung dominiert, die als Historismus bekannt ist und die Zeit anhand einer künstlichen Tag/ Jahr-Theorie berechnete. Anhänger des Historismus gehen von 1260 Jahren aus, wenn in Daniel und der Offenbarung von 1260 Tagen die Rede ist. Das ist keine wörtliche Auslegung!

Erst im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wandten Bibelausleger konsequenter eine wörtliche Hermeneutik an. Wilber B. Wallis sagt: «Ein konsequenter Futurismus, der die Notwendigkeit, die Zeiten zu berechnen, vollständig ausräumt, kam nicht vor dem frühen 19. Jahrhundert auf.» Im Allgemeinen kehrte die evangelikale Gemeinde, insbesondere in der englischsprachigen Welt, zum prämillennialistischen Futurismus der frühen Gemeinde zurück. Jetzt wandte man die wörtliche Methode an und entwickelte sie über die Form hinaus, die in der frühen Gemeinde zu finden war. Wie Wallis feststellt, enthielten die Ansichten von Irenäus (ca. 185) die Grundlagen des wörtlichen und futuristischen Verständnisses von der biblischen Prophetie, wie sie im modernen Dispensationalismus zu erkennen sind. Wichtig ist hier, anzumerken, dass es fraglos zu einer futuristischen Sicht von der Prophetie kam, als Ausleger die wörtliche Hermeneutik konsequenter auf die ganze Bibel anwandten, insbesondere auf die biblische Prophetie. «Wir sind zu Irenäus’ Vorstellung zurückgekehrt, dass Daniels 70. Woche zukünftig ist», sagt Wallis.

Wenn die evangelikale Gemeinde weiterhin ihrem gegenwärtigen Trend folgt und sich von der wörtlichen Auslegung wegbewegt, kann sie nur zum Mystizismus der alexandrinischen Schule und den hermeneutischen Tendenzen des Mittelalters zurückkehren. Das ist kein Fortschritt; wenn das passiert, wäre das eine Rückentwicklung und ein Abwärtstrend.

Ein Wechsel zu den Auslegungstendenzen des Mittelalters hätte ernsthafte Konsequenzen. Beryl Smalley, eine auf mittelalterliche Ansichten über Schriftauslegung spezialisierte Gelehrte, sagt, dass «sie Gelehrsamkeit mittlerweile Mystizismus und Propaganda unterordneten». «Erneut spiegelte sich die Krise in biblischen Studien wider. Die Spekulation des Joachim bedeutete eine neue Welle des Mystizismus.» «Revolution und Unsicherheit haben die biblische Gelehrsamkeit in der Vergangenheit entmutigt und zu weiteren subjektiven Auslegungsmethoden angeregt», behauptet sie. «Die Bedingungen heute lassen eine gewisse Sympathie mit den Allegoristen aufkommen. Wir haben eine ganze Reihe Studien über mittelalterliche ‹Geistlichkeit›.» Zu viele Leute innerhalb des Evangelikalismus schliessen sich den allgemeinen Tendenzen einer säkularen Gesellschaft an und bewegen sich von der wörtlichen Auslegung in Richtung der fragwürdigen Finsternis der nicht wörtlichen Hermeneutik.

Es ist zu beobachten gewesen, dass die Kultur über die Jahre hin- und herschwankt zwischen Rationalismus und Mystizismus. Seit den 1960ern hat sich die amerikanische Gesellschaft eindeutig hin zu einer mystischen Weltsicht bewegt, von der sie nun fest beherrscht wird, vor allem in Bezug auf persönliche Glaubensüberzeugungen. Das biblische Christentum basiert aber nicht auf Rationalismus oder Mystizismus als Ausgangspunkt für die Wahrheit; es ist vielmehr auf der Offenbarung des Wortes Gottes aufgebaut. Wenn der Mystizismus die Denkweise einer Kultur dominiert, neigen die Menschen hermeneutisch gesehen zum Mystizismus und einer nicht wörtlichen Auslegung.

Vor einigen Jahren wurde Dr. John Walvoord gefragt: «Was werden Ihrer Meinung nach die bedeutendsten theologischen Streitpunkte in den nächsten zehn Jahren sein?» Unter anderem sagte er: «Das hermeneutische Problem einer nicht wörtlichen Bibelauslegung, insbesondere im Bereich der Prophetie. Die Gemeinde heute wird von der Vorstellung erfasst, dass man die Prophetie nicht wörtlich auslegen kann.»

Der erfahrene evangelikale Gelehrte Walt Kaiser meinte vor fast 30 Jahren, dass die Gemeinde «jetzt eine hermeneutische Krise durchmacht, die möglicherweise ebenso bedeutend und folgenschwer ist wie die zur Zeit der Reformation». In dieser Krise «liegt die Bedeutung des Textes in seinem Gegenstand statt in dem, was ein Autor mit diesem Text aussagen wollte». Kaiser erklärt weiter:

«Der Prozess der Exegese eines Textes verläuft nicht länger geradlinig, sondern kreisförmig – der Ausleger nimmt ebenso Einfluss auf seinen Text, wie der Text (durch seinen Gegenstand) auf irgendeine Weise Auswirkungen auf den Ausleger hat. Hier verwechselt man eindeutig die Lehre vom Sein mit der Erkenntnistheorie, das Subjekt mit dem Objekt, das «Vorhandensein» der Aussagen des Textes mit dem gesamten kulturellen und interpretativen ‹Ballast› des Auslegers.»

Auch Norman Geisler brachte seine Sorge um die Richtung der evangelikalen Hermeneutik zum Ausdruck und sagte, dass sie «auf einer allegorischen Auslegungsmethode der prophetischen Schrift basiert, die die Heilsgrundlagen des christlichen Glaubens untergraben würde, würde sie auf andere biblische Lehren angewandt». 2000 Jahre Kirchengeschichte haben deutlich gemacht, dass wir zu dem Subjektivismus und Mystizismus des Mittelalters zurückkehren, wenn wir weiterhin die gegenwärtigen evangelikalen Tendenzen der Auslegung der biblischen Prophetie übernehmen. Ist es denkbar, dass uns unser momentaner Abwärtstrend zu einem falschen Mystizismus führt, der sich in der Drangsalszeit ausbreiten wird?

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