Ausgelöst durch die nachhaltig vorgetragenen Thesen der sogenannten Entmythologisierung des Marburger Neutestamentlers Rudolf Bultmann (1884–1976) entwickelte sich vor 50 Jahren in der evangelikalen Christenheit eine intensive Diskussion um die akademische Bibelkritik. Ausgehend von den Büchern Alarm um die Bibel (Gerhard Bergmann, 1963) und Das Ende der historisch-kritischen Methode (Gerhard Maier, 1974), sowie die vielbeachteten Kongresse der Bekenntnisbewegung «Kein anderes Evangelium» (seit 1966) entwickelte sich ein Bewusstsein für die glaubenszerstörende Wirkung universitärer Theologie.
Insbesondere die im 19. Jahrhundert verwurzelte historisch-kritische Methode trug dazu bei, die Gedanken an den göttlichen Ursprung der Heiligen Schrift und deren übernatürliche Autorität weitgehend zu verdrängen. Die Bibel wurde von Theologen nur noch als gewöhnliches historisches Dokument mit menschlichem Ursprung betrachtet. Für die lange Geschichte der Heiligen Schrift unterstellte man zahlreiche unbekannte Autoren, verschiedene Stufen redaktioneller Überarbeitung, die Übernahme fremdreligiöser Mythen, die spätere Einfügung und Rückdatierung prophetischer Äusserungen, die weitgehend freie Erfindung von Wundererzählungen usw.
Mithilfe der historisch-kritischen Methode sollte der Theologe in die Lage versetzt werden, den vorgeblich historisch relevanten Kern biblischer Berichte zu identifizieren. Wie nicht anders zu erwarten, fielen bei dieser Vorgehensweise alle übernatürlichen Aspekte des Wortes Gottes unter den Tisch. Diese Art der Bibelkritik erklärte die ganze Geschichte des Alten Testamentes bis hin zu David für blosse Erfindung. Wunder wie die Jungfrauengeburt oder Blindenheilungen wurden als übertragen oder symbolisch uminterpretiert. Aber auch der Sühnetod Jesu und Seine Auferstehung wurden als unhistorisch und für den modernen Menschen als weitgehend irrelevant betrachtet. Diese glaubenszerstörende Sichtweise dominiert bis heute in der akademischen Theologie.
Darüber hinaus haben sich zwischenzeitlich aber noch ganz andere Formen universitärer und frommer Bibelkritik entwickelt, die ebenfalls dazu führen, ursprünglich von Gott inspirierte Aussagen zu entwerten oder gar als irrelevant für den heute lebenden Christen zu erklären. Einige der gegenwärtig weit verbreiteten Methoden frommer Bibelkritik werden hier im Folgenden kurz besprochen.
Bibelvergessenheit: «Die Bibel ist wichtig, es ist aber so mühsam sich mit ihr auseinanderzusetzen.»
Nie in der Geschichte Deutschlands war es einfacher, qualitativ hochwertige Bibelübersetzungen in die Hände zu bekommen als heute. Und nie hatten Menschen hierzulande objektiv so viel Freizeit wie heute (bei einer offiziellen 35 oder 40-Stunden-Woche). Wer will, kann jederzeit beim Gideon-Bund oder einem anderen christlichen Missionswerk vollkommen kostenlos eine Bibel erhalten. Auf verschiedenen Internetplattformen stehen gleich mehrere deutsche Bibelübersetzungen zum Download oder zum Onlinegebrauch zur Verfügung. Der privaten Bibellese werden heute keine Steine mehr in den Weg gelegt wie noch vor 150 Jahren. Und doch wird heute in der westlichen Welt weit weniger im Wort Gottes gelesen als in den vergangenen Jahrhunderten.
Auf die Frage nach dem wichtigsten Buch in ihrem Leben würden die meisten konservativen Evangelikalen, dogmatisch richtig, die Bibel nennen. Doch ihre Lebensrealität weicht davon zumeist erheblich ab. Weit mehr Zeit verbringen Gläubige heute im Internet oder bei dem Konsum von Spielfilmen als beim Studium der Bibel. Eine Untersuchung der bekannten amerikanischen Zeitschrift Christianity Today kam 2011 zu dem Ergebnis, dass 22 % der konservativ-evangelikalen Christen nie in der Bibel lesen. Etwa die Hälfte aller anonym Befragten bekannte, lediglich ab und zu die Heilige Schrift zu konsultieren. Nur knapp ein Viertel der Christen gaben sich als regelmässige Bibelleser zu erkennen. Eine ähnliche Umfrage aus dem Jahr 2017 bestätigt diese Tendenz.
Eine Form frommer Bibelkritik besteht also darin, sich zwar äusserlich zur Bibel zu bekennen, ihr aber im privaten Leben weitgehend auszuweichen. Die konservative Grundhaltung kommt hier nicht so sehr aus dem Bibelstudium, sondern vielmehr aus dem sozialen Umfeld und der eigenen Erziehung. In Aspekten, die über eine konservative Grundhaltung hinausgehen, sind bei diesen Christen häufig auch keine Jesus gemässen Veränderungen im Leben sichtbar (z.B. Urlaubsgestaltung, Medienkonsum, Umgang mit Finanzen). Wer sich nicht oder nur selten der biblischen Prägung aussetzt, wird auch in seinem Denken und Handeln nur ganz begrenzt von Gottes Wort geprägt.
Jesus gegen Paulus: «Diese Aussage finden wir nur bei Paulus. Ich glaube aber nicht an Paulus, sondern an Jesus.»
Insbesondere bei ethischen Fragen haben in den letzten Jahren viele Evangelikale ihre besondere Sympathie für die Worte Jesu entdeckt. In den USA benutzen die Red-Letter Christians (engl. für «Rote-Buchstaben-Christen») Bibelausgaben, in denen alle Aussagen Jesu rot gedruckt sind. Ihrer Überzeugung nach sind nur die direkten, im Neuen Testament zitierten Worte Jesu für alle Christen verpflichtend. Texte, die auf Paulus, Johannes oder einen der anderen Jünger zurückgehen, müssten dem untergeordnet werden, fordern sie.
Faktisch führt diese Konzeption zur Auflösung des biblischen Inspirationsverständnisses und zur Konstruktion eines Kanons im Kanon; eine Unterscheidung neutestamentlicher Schriften in Hinsicht auf ihre Glaubwürdigkeit und Relevanz. Genau das aber wurde von den Verfassern der biblischen Bücher und von den frühen Kirchenvätern vehement zurückgewiesen. Ihrem Selbstverständnis entsprechend vertraten sie in ihren Schriften nicht eine private Meinung, sondern gaben unter der direkten Leitung des Heiligen Geistes das weiter, was Gott ihnen mitgeteilt hatte (z.B. Mt 5,17f.; Gal 1,8f.; 2.Tim 3,14–17; Offb 22,18f.). In gewisser Weise haben die Texte der Apostel für die neutestamentliche Gemeinde sogar eine noch grössere Relevanz als die Evangelien, weil sie konkret in ihre Heilszeit und Alltagssituation hineinsprechen. Viele Details über das Leben des Christen und das Verhalten in der Gemeinde finden sich eben erst in den Briefen des Paulus und nicht in den Reden Jesu. Beide dürfen aber nicht als Gegensatz verstanden werden, sondern als von Gott gewollte Ergänzung.
Eine Form frommer Bibelkritik besteht also darin, die Aussagen Jesu gegen die der Apostel auszuspielen. Dahinter steht zumeist keine besondere Gläubigkeit, wie es möglicherweise den Anschein erwecken könnte. In Wirklichkeit geht es weit eher um die Frage, wie man die in der säkularen Gesellschaft anstössigen Aussagen des Neuen Testaments am geschicktesten umgeht. Vieles von dem, was die Öffentlichkeit an christlichen Positionen ärgert, steht eben nicht in den Evangelien, sondern in den Briefen der Apostel: Ablehnung der Homosexualität, Unterordnung der Frau, Ältestenamt für besonders qualifizierte Männer, Züchtigung der Kinder usw. Deutliche Aussagen der Bibel mit einem trügerischen Verweis auf Jesus zu umgehen, muss klar als Bibelkritik qualifiziert werden.
Geist gegen Schrift: «Gott führt Seine Kinder individuell und persönlich. Es ist eine Gefahr, Gott auf die Aussagen der Bibel zu beschränken.»