Was sagen Sie zu den Vorwürfen von römisch-katholischer Seite, dass sich mit dem Wahlspruch: «Mein Gewissen ist gefangen in Gottes Wort», jeder den Glauben so zusammenzimmern kann, wie es ihm gerade passt?
Die katholische Sichtweise kann natürlich sehr verlockend sein. Es ist einfach, ein Lehramt einzuführen, das eine Sicht durchsetzt und eine theologische Richtung festlegt. Das hat gewisse Vorteile. Es gibt 40.000 protestantische Denominationen. Das ist definitiv ein Problem und trägt zur Unglaubwürdigkeit bei. Aber wir sollten uns die Frage stellen, wie die Bibel im Verhältnis zu anderen Offenbarungsquellen steht, wenn christliche Lehren begründet werden. Die katholische Kirche hat das Lehramt eingeführt, um die kirchliche Tradition als Ort der rechten Auslegung des Wortes Gottes festzusetzen. Damit nimmt die Tradition de facto eine höhere Stufe ein als Gottes Wort. Weitere Offenbarungsquellen sind die Vernunft und die Erfahrung. Und wir müssen uns fragen, wie diese drei anderen Offenbarungsquellen mit der Bibel in Einklang gebracht werden sollen. Die Reformatoren lehrten nicht einen blinden «Biblizismus», der alle anderen Quellen ausblendete. Sie haben sich in ihren Argumentationen auch auf andere Quellen berufen, aber die höchste Autorität hatte für sie stets die Bibel. Luther nannte sie die «Norma normans non normata» – die normierende Norm, die nicht normiert werden kann. Mit anderen Worten: Wir können und sollen die anderen drei Zugangswege – Tradition, Vernunft und Erfahrung – in unserer Auslegung berücksichtigen, aber wir müssen sie immer den Aussagen der Heiligen Schrift unterordnen. Gläubige sollten auf diese Weise gemeinsam darum ringen, die Heilige Schrift richtig auszulegen.
Aber selbst wenn Gläubige nun ernsthaft die anderen Offenbarungsquellen berücksichtigen und dabei der Bibel den höchsten Platz einräumen, können sie immer noch – wie die Realität zeigt – auf die unterschiedlichsten Auslegungsmeinungen kommen.
Klar ist, dass es immer solche gibt, die die Heilige Schrift für ihre eigenen Interessen missbrauchen. Und selbst wenn kein Missbrauch vorliegt, so ist es eine Tatsache, dass Gläubige in Erkenntnisfragen auch bei bestem Wissen und Gewissen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können. Wir sehen das beispielsweise im Ringen zwischen Luther und Zwingli über das rechte Verständnis vom Abendmahl. Beide nahmen die Bibel sehr ernst, und doch sind sie auf gegensätzliche Deutungen gekommen. Es hat 500 Jahre gedauert, bis Reformierte und Lutheraner jeweils die Abendmahlsfeier des anderen akzeptiert haben.
Um einen Machtmissbrauch der Menschen zu verhindern, müssen wir uns gemeinsam um die wahre Bedeutung der Heiligen Schrift bemühen. Wir sollten nicht vorschnell solche aus der Gemeinde ausschliessen, die zu anderen Erkenntnissen kommen. Ein Miteinander muss möglich sein, ein gemeinsames Kämpfen, erfüllt vom Heiligen Geist – selbst wenn man am Ende dann doch auf unterschiedliche Ergebnisse kommt.
In Anlehnung an Matthäus 18 würde ich hinzufügen, dass wir in unseren Gemeinden eine andere Diskussionskultur brauchen. Wenn es Unterschiede gibt, muss eine Gemeinde abwägen, bis zu welchem Punkt sie unterschiedliche Erkenntnisse anerkennt. Nehmen wir das genaue Verständnis vom Abendmahl: Es kann durchaus Unterschiede dabei geben, wie wir das Abendmahl definieren – hier gilt es, weiterhin gemeinsam anhand der Heiligen Schrift um das rechte Verständnis zu ringen –, aber wenn es um die Gottheit des Herrn Jesus geht, dann wäre beispielsweise ein Punkt erreicht, wo wir Grenzen setzen müssen und Gemeindezucht angebracht wäre.
Wichtig ist, dass eine Gemeinde aus mündigen Christen bestehen sollte, die gemeinsam um Gottes Wort ringen. Fatal wäre eine Gemeinde, deren Mitglieder einseitig an gewissen Lehren festhalten mit der Begründung: «So haben wir das schon immer gesehen», und die dann eigentlich wie die römisch-katholische Kirche ihre Tradition auf einer Stufe mit Gottes Wort stellen.
Wie ist denn heute für Gläubige mündiges Christsein möglich, ohne ständig von jedem Wind der Lehre hin- und hergeworfen zu werden?
Ein grosses Problem unter Christen heute ist: Die Verankerung und Verwurzelung in Gottes Wort kommt immer mehr abhanden. An der St. Chrischona haben wir uns eingehend mit dem Sündenfall beschäftigt. Der Dozent wies darauf hin, dass der Teufel versucht, das Wort Gottes aus dem Herzen des Menschen herauszureissen und Misstrauen zu säen. Einerseits sehen wir heute in der Gesellschaft und an theologischen Fakultäten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Bibel. Andererseits sehen wir, dass in den Gemeinden das Lesen und Auswendiglernen von Gottes Wort nachlässt. So wird das Misstrauen genährt, und dann wissen wir nur so ungefähr, was Gott sagt. – Wie Eva, die ungefähr wusste, was Gott gesagt hat, aber nicht genau. An diesem Punkt griff Satan an. Mündiges Christsein dagegen ist, in der Heiligen Schrift verwurzelt und verankert zu sein. Wenn ich ganze Kapitel und Verse auswendig kenne, dann verändern diese mich von innen heraus. Gerade das ist ein Schutzwall gegen verschiedene Meinungen, gegen das Hin- und Hergeworfen-sein. Dann wissen wir, wo das Fundament ist. Und wer so in Gottes Wort verwurzelt ist, kann sich auch ohne Gefahr mit den verschiedenen Offenbarungsquellen wie Vernunft, Tradition und Erfahrung beschäftigen, weil er verinnerlicht hat, wo die höchste Autorität zu finden ist.
Martin Luther lebte in der Erwartung, dass der Jüngste Tag vor der Tür stand. Inwieweit kann die Naherwartung hilfreich für ein mündiges Christenleben sein?
Heute besteht kaum noch eine Naherwartung unter Christen in West- und Mitteleuropa. Eine solch nachlässige Haltung können sich aber nur Menschen leisten, die es sich in der Welt bequem gemacht haben und abgesichert sind. Und das führt dazu, dass wir wie die fünf Jungfrauen werden, die ohne Öl einschlafen, oder dass wir uns wie der faule Knecht verhalten. Doch gerade ein mündiges Christsein zeichnet die Erwartung aus, dass der Herr heute wiederkommen kann. Nur der Narr spricht in seinem Herzen: «Mein Herr kommt noch lange nicht.» Hier in Deutschland oder in der Schweiz geht es uns so gut, dass uns unsere eigene Bequemlichkeit müde gemacht hat. Viele von uns beschäftigen sich kaum noch mit Gottes Wort. Schon deshalb gehört Naherwartung sehr stark zu mündigem Christsein dazu. Denn so wappnen wir uns gegen Materialismus; so bleiben wir bereit. Wie Gustav Heinemann einmal sagte: «Die Herren dieser Welt gehen, unser Herr kommt.»
Die Wirrungen und Irrungen unserer Zeit sind erschreckend. Wenn wir jedoch begreifen, dass unser Herr kommt, können wir das Zeitgeschehen gelassener nehmen. Wir haben eine Ewigkeitsperspektive. Und wenn wir die verfolgten Christen sehen, sollte uns das auch sehr nachdenklich stimmen. Wären wir gleichermassen bereit, Verfolgung für unseren Glauben aufzunehmen, wie es viele Gläubige weltweit tun? Da, wo der Glaube etwas kostet, trennt sich die Spreu vom Weizen. Gerade in solchen Umständen besteht dann zwangsläufig eine starke Naherwartung und mündiges Christsein. Das erkennen wir auch, wenn wir das Buch der Offenbarung betrachten. Es wurde im 1. Jahrhundert für verfolgte Christen geschrieben; zum Zeitpunkt der Abfassung der Offenbarung standen grosse Christenverfolgungen bevor. Deshalb wird dieses Buch in der Verfolgung auch so oft gelesen, denn es gibt uns Hoffnung und richtet uns auf die Wiederkunft Jesu aus.
Wie sieht ein mündiges Christsein, verankert und verwurzelt in Gottes Wort, in der Praxis aus?
In Römer 10 finden wir eigentlich die perfekte Definition von mündigem Christsein. In den Versen 9 und 10 sehen wir, dass tief im Herzen verwurzelter Glaube und unser Bekenntnis eng zusammengehören. Einerseits haben wir die Gewissheit, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, dass Er für uns gestorben und auferstanden ist. Er ist derjenige, der in unserem Herzen regiert. Und das, was in unserem Herzen sein sollte, muss eben auch in unserem Mund sein. Wie es Petrus sagt: «Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist» (1.Petr 3,15). Bekennen können wir aber nur, wenn wir diese Hoffnung auch wirklich haben. Mündiges Christsein besteht im Alltag somit darin, dass ich in meinem Herzen die Gewissheit trage, einen Herrn zu haben, der für mich gestorben und auferstanden ist und der wiederkommt – und dass ich bereit bin, dies jederzeit weiterzuerzählen.
Wenn jemand nur für sich glaubt, aber nichts weitergibt, dann ist er wie das Tote Meer. Und wer nur weitergibt, aber nichts im Herzen hat, veranstaltet nur eine Show. Deshalb sind diese beiden Dinge wesentlich für mündiges Christsein: Im Herzen fest verankert zu sein und in der Bereitschaft zu leben, die frohe Botschaft weiterzugeben und andere Menschen zum Glauben einzuladen. Unser Herr hat uns aus der Welt herausgerufen, gerade um uns in diese Welt hineinzusenden. Beide Seiten gehören untrennbar zusammen und keine darf vernachlässigt werden.
Vielen Dank für das Gespräch.