In einem Brief an Myconius schrieb Ulrich Zwingli: «Ich glaube, dass, so wie die Kirche durch Blut ins Leben gerufen worden ist, so kann sie nur durch Blut erneuert werden, nichts anderes.» Mit dem Blut meinte er ein von Leiden geprägtes Zeugnis für die Wahrheit. Zwingli erklärte weiter: «Nie wird die Welt ein Freund Christi sein, und die verheissene Belohnung Christi ist mit Verfolgungen verbunden. Er hat die Seinen wie ‹Schafe unter die Wölfe› gesandt.»
In dieser und folgenden Ausgaben soll die Geschichte einiger Christen im Zürich der Reformationszeit geschildert werden. Ihr Leben bestätigt das obige Wort des Zürcher Reformators. Diese Christen haben, ohne es zu wissen, das Täufertum begründet. Die Geschichtsschreibung hat sie abschätzig «Wiedertäufer» genannt und ist damit dem offiziellen Chronisten der damaligen Zeit, Heinrich Bullinger, gefolgt. Unvoreingenommenere Historiographen als der Zürcher Reformator haben der Gruppe von damals den Namen «Schweizer Brüder» verliehen. Dieser Titel ist sachgemässer. Er trägt dem Umstand Rechnung, dass die Zürcher Täufer von damals nur eine von Tausenden solcher Gruppierungen waren, die sich während der rund sechzig Jahre nach 1520 zwischen der Adria und der Ostsee bildeten. Für uns geht es um die Ereignisse in Zürich und Zollikon während der Jahre 1519–1527.
In diesem Teil werden wir den gesellschaftlichen Rahmen und die Hauptpersonen betrachten.
Die damaligen Ereignisse fanden in einer gesellschaftlichen Ordnung statt, die noch vollständig vom Mittelalter bestimmt war. Staat und Kirche waren Anfang des 16. Jahrhunderts (seit schon 1.000 Jahren) zwei Hälften eines unteilbaren Ganzen; politische Fragen waren mit religiösen aufs engste verquickt.
So war das katholische Ritual der Kindertaufe nicht nur von der Kirche, sondern auch vom Staat per Gesetz verordnet, und zwar nicht nur in der Eidgenossenschaft, sondern in ganz Europa.
Ein anderes Beispiel: Die Landgemeinden rund um Zürich mussten der Stadt jedes Jahr aufs Neue ihre Treue schwören. Mit diesem religiös begründeten Eid war auch die Erhebung von Abgaben untrennbar verknüpft.
Die Kirche hatte trotz zunehmenden Widerstands nach wie vor die absolute Oberhoheit in Glaubensfragen sowie weiterhin erhebliche politische Macht. So wurde 1493 beispielsweise der Streit zwischen den Seemächten Portugal und Spanien über Gebietsansprüche in Südamerika durch einen Schiedsspruch von Papst Alexander VI. geregelt. Und 1501 verordnete eine päpstliche Bulle die Verbrennung von Büchern gegen die Kirchenautorität und Kirchenstrafen gegen ihre Verbreiter.
Diese Tatsachen müssen wir berücksichtigen, wenn wir begreifen wollen, weshalb die Auseinandersetzung zwischen Ulrich Zwingli und dem Rat von Zürich einerseits und den Täufern andererseits so dramatische Ausmasse annahm (wie wir in den nächsten Ausgaben sehen werden).
Es wäre indessen nicht zutreffend, die Heftigkeit dieser Auseinandersetzung einfach damit zu erklären, dass bei den damaligen Ereignissen neue Ideen und veraltete Strukturen aufeinander prallten. Was sich im Zürich und Zollikon der Reformationszeit ereignete, war im Kern eine Konfrontation zwischen der Autorität des Wortes Gottes und menschlichem Machtstreben.
Die Hauptpersonen waren folgende:
Ulrich Zwingli, geboren am 1. Januar 1484 in Wildhaus. Studien in Basel, Bern und Wien. Er erwies sich als Student, der seine Mitstudenten an Fleiss und Intelligenz überflügelte. Während der Studienzeit in Basel geriet er unter den Einfluss von Erasmus von Rotterdam, einem bedeutsamen Humanisten. Nach Studienende wurde er Leutpriester in Glarus, danach in Einsiedeln. Dort erwarb er sich einen Ruf als Prediger. Wallfahrer aus Zürich berichteten in der Limmatstadt von den Predigten des begabten Redners, und als am Grossmünster die Stelle als Leutpriester frei wurde, erging der Ruf an Zwingli. Als er den Erfolg seines Dienstes wahrnahm, verfolgte er die Vision einer Reform der Kirche mithilfe der zivilen Obrigkeit. Er hoffte, mittels dieser Strategie eines Tages die Geburt eines «alpinen Israel» zu sehen, dem sich allmählich alle Kantone der Eidgenossenschaft anschliessen würden.
Konrad Grebel, geboren 1498 als Sohn von Jakob Grebel, einem einflussreichen Bürger und Politiker der Stadt Zürich, Mitglied der Zunft «Zur Meise». Konrad studierte in Basel, Wien und Paris, erlangte jedoch keinen Studienabschluss. Während der Studienjahre führte er ein Leben, das von Ausschweifung, Schlägereien und Alkohol geprägt war. 1520 kehrte er infolgedessen mit erheblich angeschlagener Gesundheit nach Zürich zurück. Unter Zwingli begann er die klassischen griechischen Autoren, das Griechisch des Neuen Testaments sowie Hebräisch zu studieren. Am 6. Februar 1522 heiratete er entgegen dem Willen seiner Eltern eine Frau von niederem Stand. Im gleichen Jahr bekehrte er sich zu Jesus Christus und wurde ein loyaler Weggefährte Zwinglis. Er sollte im Laufe der Zeit zum unbestrittenen Leiter der Täufer werden.
Felix Manz, geboren in Zürich 1498 (Datum unsicher), unehelicher Sohn eines katholischen Priesters (wie auch Erasmus, Leo Jud und Heinrich Bullinger). 1522 schloss er sich der Studiengruppe von Zwingli an und lernte dort Grebel kennen. Er erlangte gute Kenntnisse in Lateinisch, Griechisch und Hebräisch. Rhetorisch begabter und populärer als Grebel. Er, Grebel und Jörg Blaurock waren die Leiter der «Schweizer Brüder». Bis zu seiner Hinrichtung 1527 wurde Manz von den Behörden wiederholt ins Gefängnis geworfen. W. Estep, ein amerikanischer Historiker, bemerkte: «Kaum ein Gefängnis im Umkreis von Manz’ Wirken kam darum herum, durch seine Gegenwart geehrt zu werden.»
Georg Cajacob, genannt Blaurock, geboren 1491 in Bonaduz, Graubünden. Er absolvierte ein Theologiestudium an der Universität von Leipzig und wurde Priester der katholischen Kirche. Zwischen 1516 und 1518 war er Vikar in Trins, das zur Diözese von Chur gehörte. 1523 wurde er Anhänger der Reformation. Als er nach Zürich kam, war er bereits verheiratet; für katholische Priester der damaligen Zeit ein Novum. Zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung trat er bei der Disputation vom 17. Januar 1525. Wegen seines Eifers wurde ihm bald der Titel «der starke Jörg» verliehen. Seine Freunde nannten ihn: «der zweite Paulus». Von den drei Leitern der Täuferbewegung deckte sein Dienst das grösste geografische Gebiet ab und hinterliess am meisten Wirkung.
In welch eine bewegte Zeit diese Männer hineinwirkten, wie sehr sich das eingangs aufgeführte Zitat von Zwingli bewahrheiten sollte und was das für uns heute bedeutet, werden wir in den nächsten Ausgaben sehen.
Der Autor, ein Schweizer, der sich eingehend mit dem Täufertum beschäftigt hat, ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym und im Hintergrund bleiben, damit das Licht Jesu Christi durch das Zeugnis der Täufer umso heller hervorstrahlt.