Zuerst wollen wir klären, was mit dem Ausdruck «Paradies» gemeint ist. Den Ausdruck «Paradies» finden wir das erste Mal in der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung des Alten Testaments. Dort wird der Garten Eden als Paradies bezeichnet. Eden war der Ort ungetrübter, inniger Gemeinschaft zwischen Gott und dem ersten Menschenpaar. Diese jedoch wurde dann durch die Sünde zunichtegemacht (1.Mo 3,24).
Im Neuen Testament ist das «Paradies» der Aufenthaltsort verstorbener Gläubiger. Jesus sagte vor Seinem Kreuzestod: «Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbare Leinwand und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer namens Lazarus, der lag vor dessen Tür voller Geschwüren und begehrte, sich zu sättigen von den Brosamen, die vom Tisch des Reichen fielen; und es kamen sogar Hunde und leckten seine Geschwüre. Es geschah aber, dass der Arme starb und von den Engeln in Abrahams Schoss getragen wurde. Es starb aber auch der Reiche und wurde begraben. Und als er im Totenreich seine Augen erhob, da er Qualen litt, sieht er den Abraham von ferne und Lazarus in seinem Schoss» (Lk 16,19-23).
Interessant ist, dass Jesus hier den Ausdruck «Abrahams Schoss» verwendete. Gegenüber dem Verurteilten neben Ihn am Kreuz sprach Er später jedoch vom «Paradies» (Lk 23,43). Warum dieser Unterschied?
Nach meinem Dafürhalten war der «Schoss Abrahams» der Aufenthaltsort aller im Glauben Verstorbenen vor dem Sieg Jesu am Kreuz. Das von Jesus Christus gegenüber dem Schächer am Kreuz propagierte «Paradies» ist nun aber der Aufenthaltsort aller im Glauben Gestorbenen nach Seinem Sieg von Golgatha.
Auch Paulus erwähnt dieses Paradies: «Ich weiss von dem betreffenden Menschen, ob im Leib oder ausserhalb des Leibes, weiss ich nicht; Gott weiss es, dass er in das Paradies entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte, die ein Mensch nicht sagen darf» (2.Kor 12,3-4). Stephanus beschreibt uns diesen Ort mit folgenden Worten: «Siehe, ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen» (Apg 7,56).
Sowohl Paulus und Stephanus sehen den Himmel offen. So etwas hat es vor Golgatha nicht gegeben. Ja, Stephanus sieht sogar Jesus Christus, den Sieger von Golgatha, zur Rechten Gottes stehen. Damit wird ein signifikanter Unterschied zwischen dem «Schoss Abrahams» und dem Paradies deutlich.
Noch einmal: Wenn wir die biblischen Aussagen miteinander vergleichen, ist der Schluss zulässig, dass es vor und nach Golgatha zwei unterschiedliche Aufenthaltsorte der Erlösten gab bzw. gibt. Vor Golgatha bezeichnete der Herr Jesus das Ziel der Gläubigen als den «Schoss Abrahams». Nach Golgatha ist es die direkte Gemeinschaft mit und bei Jesus Christus.
Vor Golgatha konnte niemand wie Paulus sagen: «Mich verlangt danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre» (Phil 1,23). Paulus meint damit nicht den «Schoss Abrahams», sondern vielmehr die direkte Gemeinschaft mit Jesus Christus.
Da stellt sich die Frage: Wann wurde dieser Wechsel vollzogen? Meines Erachtens hat dieser Wechsel etwas zu tun mit den Ereignissen am Kreuz von Golgatha. Interessanterweise lesen wir: «Darum heisst es: ‹Er ist emporgestiegen zur Höhe, hat Gefangene weggeführt und den Menschen Gaben gegeben›. Das Wort aber: ‹Er ist hinaufgestiegen›, was bedeutet es anderes, als dass er auch zuvor hinabgestiegen ist zu den Niederungen der Erde? Der hinabgestiegen ist, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfülle» (Eph 4,8-10).
Eine weitere aufschlussgebende Stelle ist 1. Petrus 3,18-22: «Denn es hat auch Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe, zwar getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist. In diesem ist er auch hingegangen und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt, die einst ungehorsam gewesen waren, als die Langmut Gottes in den Tagen Noahs abwartete, während die Arche gebaut wurde, in die wenige, das sind acht Seelen, durchs Wasser hindurch gerettet wurden. Das Gegenbild dazu errettet jetzt auch euch, das ist die Taufe – nicht ein Ablegen der Unreinheit des Fleisches, sondern die Bitte an Gott um ein gutes Gewissen – durch die Auferstehung Jesu Christi. Der ist zur Rechten Gottes, nachdem er in den Himmel gegangen ist, und Engel und Mächte und Kräfte sind ihm unterworfen.»
Nach meiner Erkenntnis wird damit ausgedrückt, dass Jesus Christus nach Seinem Tod hinabgestiegen ist, nämlich in den Schoss Abrahams, der bis dahin der «Paradiesteil» des Totenreichs war. Und dort hat Er den alttestamentlichen Gläubigen Seinen Sieg verkündigt.
Er ist aber auch ins «Gefängnis» gegangen, an den Ort, wo Dämonen auf ihre letztendliche Verurteilung warten, und hat diesen Seinen Triumpf trotz Seines Kreuzestodes verkündigt. Ja, gerade weil Er starb, hat Er in Seinem Sterben die Höllenmächte blossgestellt. Paulus sagt darüber: «Als er so die Herrschaften und Gewalten entwaffnet hatte, stellte er sie öffentlich an den Pranger und triumphierte über sie an demselben» (Kol 2,15).
Bei Seiner Auferstehung nun hat Jesus eine Beute mit sich geführt (vgl. Eph 4,8-10). Diese Beute sind alle diejenigen Gläubigen, die vor Golgatha starben und im «Schoss Abrahams» warteten. Diese Gläubigen hat Jesus bei Seiner Auferstehung mit sich geführt (Er hat Beute gemacht!) und sie mit ins Paradies genommen. Man beachte in diesem Zusammenhang die Worte, die Jesus zum Schächer am Kreuz sagte: «Heute wirst du mit mir im Paradiese sein!»
An diesem himmlischen Ort, von Jesus Paradies genannt, ruhen seitdem alle diejenigen, die im Glauben gestorben sind. Dabei warten sie auf die Auferstehung ihres Leibes und damit auf ihre Vollendung. Diese Vollendung wird uns in Hebräer 11,39-40 beschrieben: «Und diese alle, obgleich sie durch den Glauben ein gutes Zeugnis empfingen, haben das Verheissene nicht erlangt, weil Gott für uns etwas Besseres vorgesehen hat, damit sie nicht ohne uns vollendet würden.» Somit sind alle im Glauben Verstorbenen, sowohl die des Alten als auch die des Neuen Testaments, als Erlöste bei Jesus. Noch ist ihre Vollendung nicht abgeschlossen, warten sie doch auf ihres Leibes Erlösung, gleich einem Samenkorn, das in der Erde auf Erblühen des neuen Lebens wartet. Erst wenn dies eintritt, ist die Vollendung aller Gläubigen abgeschlossen. Paulus sagt diesbezüglich: «Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes» (Röm 8,23).
Dann endlich schliesst sich der Kreis und über diejenigen, die geglaubt haben, darf es heissen: «Geliebte, wir sind jetzt Kinder Gottes, und noch ist nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen aber, dass wir ihm gleichgestaltet sein werden, wenn er offenbar werden wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist» (1.Joh 3,2).