Der Weg zum Bruch zwischen Zwingli und den Schweizer Brüdern (Teil 2)

Ein Rückblick auf die Geschichte der Täufer von Zürich – genannt Schweizer Brüder – zur Reformationszeit.

Im Jahre 1519 wird Ulrich Zwingli Leutpriester am Grossmünster von Zürich, damals eine Stadt mit 8.000 bis 10.000 Einwohnern. Am 1. Januar, seinem 35. Geburtstag, landet er mit einem Schiff bei der Wasserkirche, um seinen Dienst anzutreten. Von Beginn an legt er bei der Messe das Schwergewicht auf die Auslegungspredigt aus dem Neuen Testament.

Zwei Jahre später erteilt Zwingli Unterricht in den biblischen Sprachen, ein Mittel, um junge Leute der Stadt für seine Position zu gewinnen. Unter den Schülern befindet sich Konrad Grebel. Der Unterricht besteht im Studium der lateinischen, griechischen und hebräischen Versionen des biblischen Textes. Anschliessend an das Textstudium haben die Schüler in Form einer Predigt zu zeigen, dass sie den Sinn des Textes begriffen haben. – Eine sorgfältigere Beschäftigung mit dem biblischen Text ist schwer vorstellbar. 

Nach drei Jahren des Dienstes erlangt Zwingli in der Stadt einen erheblichen Einfluss. Felix Manz beginnt an Zwinglis Unterricht teilzunehmen. Im Frühling 1522 bekehrt sich Konrad Grebel im Alter von 24 Jahren zu Jesus Christus. Manz und Grebel werden loyale Gefolgsleute Zwinglis. 

Am 29. Januar 1523, in der ersten öffentlichen Disputation zu Glaubensfragen, bekennt sich der Rat von Zürich zur Bibel als verbindlicher Grundlage für das Christentum und zur reformierten Predigt von Zwingli. Dieser Entscheid ist ein strategischer Schlag gegen die Anhänger des bisherigen katholischen Glaubens.

Am 28. April heiratet Wilhelm Röubli, ein Priester deutschen Ursprungs, öffentlich in Witikon. Er ist der erste Priester auf Schweizer Boden, der sich so des Zölibats entledigt. In seinen Predigten spricht er sich gegen den Zehnten aus, den die Landgemeinden der Stadt Zürich entrichten. 

Im Sommer trifft Zwingli Hinne Rhode, einen holländischen Sakramentarier. – Sakramentarier waren Personen, die jene Rituale, die die Kirche der damaligen Zeit als «Sakrament» bezeichnete (z.B. Eucharistie, Kindertaufe), als reines Zeichen betrachteten, das in demjenigen, an dem die Handlung vollzogen wurde, keine innere Änderung bewirkte. Dagegen sagt die Römisch-Katholische Kirche bis heute, dass die vorgenommenen Ritualhandlungen eine innewohnende Wirkung hätten: Durch das Betupfen mit Wasser wird der Säugling zum Christen; im Brot, das bei der Eucharistie eingenommen wird, ist Christus leibhaftig gegenwärtig. – Rhode übergibt Zwingli eine Kopie des Werkes von Corenlius Hoen «Epistola Christiana admodum». In diesem Buch wird das Abendmahl als eine Verordnung des Herrn mit reinem Symbolgehalt interpretiert. Mit anderen Worten: Wenn der Herr sagt: «Dies ist mein Leib», so ist der Sinn des Tätigkeitswortes «bedeutet» und nicht «ist» im wörtlichen Sinn. Dieser Interpretation werden sich mit der Zeit sowohl die Täufer als auch Zwingli anschliessen (und vertreten heute in der Regel die Evangelikalen). 

Während dieses Sommer 1523 finden erste Kontakte zwischen Zwingli und Konrad Grebel, Felix Manz sowie Simon Stumpf, einem Pfarrer aus Höngg, statt. Die drei Männer ersuchen Zwingli, die reformatorische Sache schneller und mit konkreteren Massnahmen voranzutreiben. 

Im September kauft Niklaus Hottinger, Bürger von Zollikon, in Stadelhofen ein Grundstück, auf dem ein Kruzifix errichtet ist. Während einer Nacht gräbt er zusammen mit Hans Oggenfuss und Lorenz Hochrütiner das Kruzifix aus. Das Holz zersägt er und verkauft es den Armen als Heizmaterial. Hottinger wird ins Gefängnis gesteckt, jedoch zwei Monate später auf Eingreifen Zwinglis hin freigelassen. Er verlässt die Stadt und wirkt als Verkündiger des Evangeliums in der Umgebung von Baden, damals noch katholisches Gebiet. Die katholischen Behörden ergreifen ihn und führen ihn nach Luzern über. Am 9. März 1524 befindet die Tagsatzung, das Ausgraben des Kruzifixes sei eine Gotteslästerung und verurteilt Hottinger zum Tod. Am 26. März wird er in Luzern enthauptet. 

Hottinger ist der erste Märtyrer des neuen Glaubens. Er gehörte zu denjenigen Einwohnern von Zollikon, die sich knapp eineinhalb Jahre später der Täuferbewegung anschliessen.

Vom 26. bis 28. Oktober 1523 findet eine zweite öffentliche Disputation in Zürich statt, betreffend die Messe und die «Heiligen»-Bilder. Zwingli ist der Auffassung, die Messe weiche in so vielen Punkten vom biblischen Modell des Gottesdienstes ab, dass sie einer Gotteslästerung gleichkomme. Trotzdem vertritt er in der Öffentlichkeit die Auffassung, die Messe könne eine gültige Darstellung des Erlösungswerks von Jesus Christus sein. Während der Disputation sagt er, der Rat von Zürich werde entscheiden, welche Massnahmen wegen der Gestaltung der Messe zu treffen seien. Darauf erhebt sich Simon Stumpf und erwidert: «Meister Ulrich, du hast kein Recht, diese Entscheidung in die Hände meiner gnädigen Herren zu legen, denn die Entscheidung ist bereits gefallen: der Geist Gottes entscheidet.» Auch Balthasar Hubmaier, Priester in Waldshut, Ludwig Hätzer, ein anderer deutscher Priester, sowie Manz und Grebel bringen zum Ausdruck, dass sie diese Vorgehensweise als falsch erachten, da sie nicht mit Gottes Wort übereinstimmt. 

Um die Haltung dieser Männer zu verstehen, müssen wir wissen, dass zum damaligen Zeitpunkt Zwingli und die anderen Pfarrer die Messe, bekleidet mit Messgewändern, auf Lateinisch halten und dass sie beim Abendmahl den Kelch der Gemeinde vorenthalten. Bei der Säuglingstaufe werden die Kleinkinder angeblasen, der Teufel wird ausgetrieben und das Kreuz über ihnen geschlagen. Ferner werden sie mit Speichel befeuchtet und mit Öl gesalbt. All diese Riten sind katholisches Brauchtum, und haben keine biblische Basis. 

Am 19. Dezember überlässt Zwingli den Entscheid über die Form des Gottesdienstes endgültig dem Rat von Zürich. Für Grebel, Manz und Hätzer opfert der Reformator damit die Autorität des Wortes Gottes auf dem Altar der menschlichen Taktik und der Zweckmässigkeit. Die Korrespondenz Konrad Grebels lässt dies deutlich erkennen. 

Der mennonitische Theologe Harold Bender bemerkt, dass der Entscheid Grebels, sich nicht den kirchlichen Entscheidungen des Rates von Zürich zu unterstellen, auf strategischer Ebene den Beginn des Freikirchentums dargestellt hat. Diese Feststellung ist zutreffend. Es muss aber auch gesagt werden, dass Grebel und seine Gefährten zu diesem Zeitpunkt noch keine klar definierte Vorstellung haben, wie eine Gemeinde aussehen soll. Ihre diesbezüglichen Überzeugungen entstehen erst durch Bibelstudium während der Auseinandersetzung mit Zwingli im folgenden Jahr.

Im Lauf des Jahres 1524 bilden einige Personen um Konrad Grebel eine Zelle, aus der zu Beginn des folgenden Jahres das Täufertum als selbstständige Bewegung entsteht. Die Angehörigen der Gruppe treffen sich in den Häusern für Bibelstudium und Gebet. Einer der bevorzugten Orte befindet sich im Heim von Felix Manz an der Neustadt-Gasse. 

Während des Jahres unternehmen Grebel, Manz und Simon Stumpf bei Ulrich Zwingli und Leo Jud mehrere Initiativen, in denen sie eine bibeltreuere Durchführung der Reformation vorschlagen. Die wichtigsten dieser Vorschläge lauten:

– Zwingli solle einen Aufruf erlassen, wonach alle Bürger von Zürich, die Jesus Christus nachfolgen wollten, auf Zwinglis Seite wechseln sollten. Grebel und Manz sind überzeugt, dass eine Mehrheit diesem Aufruf folgen werde. Mittels dieser Mehrheit entschiedener Christen würde es möglich sein, einen neuen Rat von Zürich zu wählen, der sich aus bewussten Christen zusammensetzt. 

– Ein Prediger solle nicht vom Zehnten leben, die der Staat verordnet hat, sondern von freiwilligen Gaben der Gläubigen. Die Brüder offerieren Zwingli eine Summe von 100 Gulden pro Jahr, falls er ihrem Ansinnen wohlgesonnen wäre. 

– Die Kirche solle nicht durch den Staat organisiert werden, sondern sich selbst in Form von örtlichen Versammlungen bilden. 

– Keine Kindertaufe, sondern die Taufe soll an Erwachsenen vorgenommen werden, die sich zu Jesus Christus bekehrt haben.

Alle diese Vorschläge lehnt Zwingli ab, weil sie ihm zu radikal sind. Sein Plan ist, mittels unablässigen Predigens die Bürger von Zürich, insbesondere den Rat, so zu beeinflussen, dass die von Zwingli gewünschten Reformen zustande kommen. 

Die Grebel-Gruppe korrespondiert mit im Ausland ansässigen Theologen ihrer Zeit (Karlstadt und Luther). Es entsteht ein Kontakt mit Wilhelm Röubli, Prediger in Witikon und Zollikon, der die Kindertaufe als unbiblisch bezeichnet und der vor allem Grebel die Augen öffnet für die neutestamentliche Lehre der Glaubenstaufe. 

Konrad Grebel schreibt zwei Briefe an Thomas Müntzer, ein deutscher Priester mit schwärmerischen Tendenzen, der im Grossen Bauernkrieg (1524–1525) eine unrühmliche Rolle spielen wird. Darin spricht Grebel stellvertretend für seine Gesinnungsgenossen sieben Punkte an, in denen sie Vorbehalte gegenüber Müntzers Überzeugungen zum Ausdruck bringen. Vor allem distanzieren sie sich von dessen Bereitschaft, Änderungen in Glaubensfragen mittels Gewalt herbeizuführen.

Weiter äussert sich der Brief ausführlich über das Abendmahl. Es soll oft genommen werden unter Beachtung der Gemeindezucht, die in Matthäus 18,15–18 gelehrt wird. Aus diesen Bemerkungen können wir schliessen, dass die Christen um Grebel und Manz bei ihren Zusammenkünften das Abendmahl regelmässig einnehmen. Zu diesem Zeitpunkt zählen sich etwa zwanzig Personen zu der Gruppe.

Im Herbst 1524 verteilt Felix Manz in Zürich Kopien von Karlstadts Werk über das Abendmahl. Diese Verteilaktion stellt eine Kritik an der in Zürich damals üblichen Form des Abendmahls dar. Erst im Lauf des Jahres 1525 geht Zwingli auch in der Öffentlichkeit dazu über, Brot und Wein als reine Symbole zu lehren und die Gemeinde am Kelch teilnehmen zu lassen (in der römisch-katholischen Kirche durfte damals die «Laien» nicht aus dem Kelch trinken). 

Oktober bis Dezember: Private Konferenzen zwischen Vertretern der Grebel-Gruppe und Zwingli und Leo Jud über die Trauffrage. Eine Einigung kommt nicht zustande. Manz überreicht dem Rat von Zürich eine schriftliche Eingabe über dieses Thema mit biblischer Exegesis und stellt das Gesucht, Zwingli möge seinerseits schriftlich zu Händen des Rates antworten. 

Zwingli reagiert stattdessen mit der Publikation einer Schrift, in der er sich über diverse «Unruhestifter» äussert. Zu diesen zählt er bereits zu dem Zeitpunkt diejenigen, die Vorbehalte gegenüber der Kindertaufe angemeldet haben. Er bezichtigt sie des geistlichen Stolzes und fordert sie auf, das schwierige Lehramt den Pastoren zu überlassen. Dies ist sein letzter Ruf zur Einheit. 

Worin unterscheiden sich die beiden Gruppen? Beide sind ja überzeugt, dass die Bibel Gottes Wort ist. Der Unterschied liegt im praktischen Verständnis der Autorität und der Anwendung der Schrift. Fritz Blanke, vormals Professor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich, stellt in seinem Buch Brüder in Christo fest: Für Zwingli ist die Bibel nur in Bezug auf das Heil in Christus absolut bindend; in anderen Fragen sei der Christ bezüglich der Anwendung frei. Für die Personen um Manz und Grebel hingegen ist die Bibel in allen Punkten verbindlich, zu denen sie sich äussert. Ihre folgerichtige Grundüberlegung kann wie folgt umschrieben werden: «Wenn die Bibel Gottes Wort ist, und somit mit göttlicher Autorität spricht, so gilt das nicht nur für die Errettung des Sünders durch Glauben an Jesus Christus, sondern auch in den anderen Bereichen, in denen sie in unser Leben redet.»

So kommt es in der Tauffrage zum Konflikt zwischen der Autorität der Bibel und der Autorität des Zürcher Reformators bzw. des Rats von Zürich. 

Die «Brüder» haben vom Rat einen schriftlichen Meinungsaustausch gewünscht. Dazu kommt es nicht. Stattdessen lädt der Rat die beiden Parteien zu einer Disputation über die Tauffrage am 17. Januar 1525 ein. Die Vorladung lässt indessen erkennen, dass die Meinung des Rats bereits gemacht ist: Die Gegner der Kindertaufe werden darin als die Irrenden bezeichnet. Der Ausgang der Debatte steht bereits fest, bevor diese begonnen hat.

Der Autor, ein Schweizer, der sich eingehend mit dem Täufertum beschäftigt hat, ist der Redaktion bekannt, möchte aber anonym und im Hintergrund bleiben, damit das Licht Jesu Christi durch das Zeugnis der Täufer umso heller hervorstrahlt.

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