Das Erbe der Wiedertäufer (Teil 1)

Viele Schweizer wissen von der Zürcher Reformation mit ihrem Gründer Huldrych Zwingli. Wie viele wissen aber, dass zur gleichen Zeit eine weitere geistliche Bewegung in Zürich stattfand und Zwingli zu Beginn gar ein Befürworter dieser Bewegung war? Ein Rückblick und eine Bewertung.

Es handelt sich um die sogenannten Wiedertäufer. «Sogenannt» ist hier wörtlich gemeint, weil sie sich selbst am Anfang nicht so nannten. Genauso nannten sich die Christen am Anfang nicht «Christen», sondern wurden von anderen so bezeichnet (Apg 11,26).

Wie die Reformatoren wollten diese Wiedertäufer die Kirche erneuern. «Reformator» bedeutet «Erneuerer», und nicht Kirchengründer. Aber wie wir wissen, kam es anders. Es kam auch anders, als die Wiedertäufer es sich dachten.

Wie die Reformatoren wollten sie die abgewichene katholische Kirche wieder zurück zum Evangelium bringen. Ein Punkt dabei war die Taufe. 

Bevor das Christentum zur römischen Staatskirche wurde, tauften Gläubige keine Säuglinge. Aus der Bibel geht hervor, dass die Taufe mit der bewussten Entscheidung zusammenhängt, Jesus nachzufolgen – ein Säugling kann diese Entscheidung nicht treffen. Die Reformatoren beschäftigten sich ebenfalls mit dieser Frage. Manche sagen, dass Luther selbst zum Beispiel nahe daran gewesen sei, die Glaubenstaufe anzunehmen. Schliesslich blieb er aber bei der Kindstaufe wie auch Zwingli.

So gab es bald unterschiedliche Auffassungen. Für die Reformatoren wie die Katholiken waren diese Leute «Wiedertäufer», weil sie ihrer Meinung nach die Menschen noch einmal («wieder») tauften. Diese hingegen sahen sich in diesem Punkt als «Täufer», weil die Säuglingstaufe für sie keine Taufe war. Dies war ein wesentlicher Unterschied zu den meisten Reformatoren, aber bei weitem nicht der einzige.

Die Wiedertäufer wollten mit der Erneuerung in verschiedenen Bereichen weitergehen als Zwingli, Luther und die meisten anderen Reformatoren. Sie wollten so leben wie Jesus mit Seinen Jüngern und den Frauen, die Ihm nachfolgten, und wie die ersten Christen in Jerusalem.

Ein weiterer Punkt der Wiedertäufer war das gemeinschaftliche Leben mit der Gütergemeinschaft. Das bedeutete, alles gemeinsam zu haben anstelle von Privatbesitz. Für die damalige römisch-katholische Kirche war das eine grosse Herausforderung. Sie besass sehr viel, zum Beispiel riesige Ländereien. Ja, sie war so gesehen reich, und wie der reiche Jüngling in der Bibel wollte sie sich nicht von ihrem Reichtum trennen. Die Reformatoren hatten nicht die gleichen Ansprüche, aber generell auf Besitz verzichten, das wollten sie auch nicht.

Reichtum und die damit verbundene Macht sind grosse Versuchungen. Schon viele Menschen sind diesen erlegen. Die Wiedertäufer wollten deshalb nicht in diese Versuchung geraten und wählten bewusst einen einfachen und bescheidenen Lebensstil. Ein Amt oder eine führende Stelle war für sie nicht in erster Linie eine Machtposition, sondern ein Dienst, wie der Herr sagt: «Der grösste unter euch soll euer Diener sein» (Mt 23,11). Diese Art zu leben war ein starker Gegensatz zum allgemeingültigen Denken. Diese Lebensweise und die untenstehende Aussage Jesu führten zu folgendem Schluss:

«Mein Reich ist nicht von dieser Welt» – auch das hatte Jesus gesagt. Deshalb wollten die Wiedertäufer eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat. Tatsächlich können wir sehen, dass Jesus die Welt veränderte, dass Er aber dazu nicht den politischen Weg wählte. Er mischte sich nie in politische Streitfragen ein, nicht einmal, als es um die Unterdrückung durch die Römer ging. Er liess sich auch nicht provozieren, zum Beispiel wenn es um Steuern ging. «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist» (Mt 22,21), sagte Er. Der Herr tat dies, obwohl Er wusste, dass mit diesen Steuergeldern die Unterdrückung durch die Römer noch gestärkt wurde. Man kann meines Erachtens sagen, dass Jesus die Trennung zwischen Kirche und Staat gelebt hat.

Die katholische Kirche hatte aber starke Machtansprüche. Sie sah sich als die höchste Instanz auf Erden. Deshalb war damals der Papst der einzige, der einen Kaiser krönen durfte.

Die Reformatoren teilten diese Machtansprüche nicht. Sie wollten aber immer mit den Behörden zusammenarbeiten und ihre Autorität und Befehlsgewalt im Bedarfsfall beanspruchen; auch die militärische – wie wir am Beispiel Zwinglis mit den Kappelerkriegen sehen können. Hier kommen wir zu einem weiteren Unterschied zu den Wiedertäufern:

«Liebt eure Feinde» (Mt 5,44), hatte Jesus gesagt. Man liebt seinen Feind nicht, wenn man ihn umbringt. Die ersten Christen waren sich dessen sehr bewusst. In den ersten 200 Jahren sah man praktisch nie einen Christen der Armee beitreten. Hingegen sind heute Fälle bekannt, in denen damals Christen den Märtyrertod erlitten, weil sie sich weigerten, Soldaten zu werden.

Erst nach Konstantin dem Grossen und seinem Ausspruch: «In diesem Zeichen wirst du siegen» (im Zeichen des Kreuzes), wurden Armee und Soldatentum bei vielen Christen «salonfähig». Man kann sich fragen: Hat sich die Lehre von Jesus geändert? Haben sich die ersten Christen geirrt?

Im Verlauf der Jahrhunderte hat sich die Kirche mehr und mehr von verschiedenen Glaubenslehren der Bibel wegbewegt. Die katholische Kirche bereicherte sich schon früh und war bemüht um Macht. Mit diesem Machtdenken wurden viele biblische Grundsätze über Bord geworfen, bis im Mittelalter die Missstände für jedermann offensichtlich wurden. Die Leute waren nun bereit, auf Erneuerer zu hören, die diese Missstände beseitigen wollten.

Wehrlosigkeit bei den Wiedertäufern ging und geht aber weiter. Sie wollten auch niemanden vor ein weltliches Gericht ziehen. Paulus schrieb: «Ist unter euch kein Weiser, der zwischen Bruder und Bruder richten könnte?» (1.Kor 6,5). Sie verstanden diesen Vers nicht nur im Zusammenhang mit Streit unter Geschwistern, sondern auch so, dass ein gläubiger Christ nicht das Urteil eines ungläubigen Richters suchen sollte.

Zurück