Woran erkennen uns die Menschen als Nachfolger des Herrn Jesus?
Nicht am strahlenden Gesicht, nicht an den Worten, die wir predigen, nicht an den Liedern, die wir singen, nicht am Bibelstudium, das wir machen, nicht an die Erkenntnisse, die wir haben und verteidigen, nicht am frommen Gehabe, das wir an den Tag legen, sondern an der Liebe, die wir praktizieren. In Lübeck besuchte ich einst eine Marzipan-Herstellungsfirma. In einem Spruch an der Wand hiess es: «Man kann keine Speise mit Zucker versalzen.» Da kam mir der Gedanke, dass es mit der Liebe ebenso ist. Mit ihr können wir nichts verkehrt machen.
«Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt» (Joh 13,35).
Ohne Liebe ist alles bedeutungslos. Sie ist der Antrieb für alle Aufforderungen, die der Apostel Paulus in Römer 13,10-14 gibt. Wenn über der Antarktis eisige Stürme wehen, dann stellen sich die Pinguine zu Tausenden dicht gedrängt aneinander, um sich gegenseitig zu wärmen. Dabei wechseln sie sich ab und rotieren so, dass die Aussenstehenden langsam nach innen rücken und die von innen weiter nach aussen gehen. Nur so überwinden sie gemeinsam die eisige Kälte. In diesen zunehmend eisigen Stürmen der Endzeit ist es umso wichtiger, am Endziel der Liebe festzuhalten.
Warum spricht Paulus in Römer 13,10-14 nun davon, dass die Nacht weit vorgerückt ist und der Tag nahe bevorsteht? An anderer Stelle sagt er doch das Gegenteil, dass nämlich die Glieder der Gemeinde Kinder des Tages sind und nicht der Nacht angehören:
«Ihr alle seid Söhne des Lichts und Söhne des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. Also lasst uns nun nicht schlafen wie die Übrigen, sondern wachen und nüchtern sein. Denn die, die schlafen, schlafen bei Nacht, und die, die betrunken sind, sind bei Nacht betrunken. Wir aber, die von dem Tag sind …» (1Thess 5,5-8).
Die Gemeinde des Herrn Jesus lebt im Licht des Tages: «einst wart ihr Finsternis, jetzt seid ihr Licht» (Eph 5,8). Alle Nationen hingegen – und dazu gehört auch Israel – leben in der Nacht und sind von Finsternis umgeben. Da die Gemeinde sich noch in der Welt befindet, erlebt sie die Nacht um sich herum mit, obwohl sie selbst im Licht steht.
Wir müssen berücksichtigen, dass der Römerbrief der erste apostolische Brief des Neuen Testaments ist. Das hat der Heilige Geist auch so angeordnet. Es gibt in den Briefen des Paulus eine fortlaufende, sich steigernde Offenbarung. In diesem ersten Brief (im biblischen Kanon) richtet sich der Apostel noch sowohl an Juden, die in Rom lebten, als auch an Heiden. In anderen Briefen tut er das in dieser Weise immer weniger. Der Römerbrief befasst sich einerseits mit der Rechtfertigung aller Menschen durch Jesus und andererseits eingehend mit der heilsgeschichtlichen Rolle Israels, mit dessen Vergangenheit, seiner Rückstellung heute und der Wiederannahme in Zukunft (Röm 9–10). Und immer wieder wechselt Paulus geschickt zwischen den Juden und Heiden hin und her. Einmal spricht er deutlich Juden an, dann wieder nur Heiden. Ein Beispiel:
Zu Juden: «Wenn du aber Jude genannt wirst und dich auf das Gesetz stützt und dich Gottes rühmst … Denn der Name Gottes wird euretwegen unter den Nationen gelästert, wie geschrieben steht» (Röm 2,17.24). Zu den Nationen: «Denn wenn du aus dem von Natur wilden Ölbaum ausgeschnitten und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige, in ihren eigenen Ölbaum eingepfropft werden!» (Röm 11,24).
Wenn in unserem Abschnitt von der weit vorgerückten Nacht die Rede ist, dann geht es zunächst um die Nacht Israels. Das belegen uns mehrere biblische Hinweise. Jesus sagte, als Er auf Erden war: «Ich muss die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt» (Joh 9,4-5).
Solange Jesus in Israel leiblich gegenwärtig war, war Tag. Als Er Israel verliess, brach die Nacht über das Volk herein und für die Nationen kam es zum Tag des Heils. «Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst» (Joh 1,5). Bereits Jesaja hatte dies prophetisch angekündigt: «Aus Seir ruft man mir zu: Wächter, wie weit ist es in der Nacht? Wächter, wie weit in der Nacht? Der Wächter spricht: Der Morgen kommt, und auch die Nacht. Wollt ihr fragen, so fragt! Kehrt wieder, kommt her!» (Jes 21,11-12).
Über der Welt und Israel lagen tiefe geistliche Finsternis und Todesschatten. Mit dem ersten Kommen des Herrn Jesus begann der Morgen eines neuen Tages, eines neuen Heilsabschnittes. «Das Volk, das im Finstern wandelt, hat ein grosses Licht gesehen; die da wohnen im Land des Todesschattens, Licht hat über ihnen geleuchtet» (Jes 9,1; vgl. Mt 4,16). Mit der Ablehnung des Herrn durch das jüdische Volk brach der Morgen allerdings nur an, und sogleich wurde es für Israel wieder Nacht. Jesus, und damit die aufgehende Sonne, verliess das Volk und fuhr zum Himmel auf. Die Todesschatten der Nacht überfielen die Israeliten schlimmer als je zuvor (Hos 5,15-6,3). Die Anwesenheit des Herrn Jesus auf der Erde war nur ein kurzer Heilsmorgen für Israel, nur ein heller Augenblick.
«Doch sagt der Wächter: Der Morgen kommt, und auch die Nacht. Wollt ihr fragen, so fragt! Kehrt wieder, kommt her!» – Diese Aussage scheint überaus prophetisch zu sein, so, als deute sie auf eine Wiederholung in einer anderen Zeit. Tatsächlich wird Christus wiederkommen und in der Endzeit wird Sein Volk diese Frage erneut stellen.
Israel befindet sich in der Nachtzeit, bereits seit 2000 Jahren. Aber mit der Wiederkunft Jesu Christi bricht ein neuer Tag an. Jesus ist sowohl der helle Morgenstern (Offb 22,16) als auch die Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20). Mit diesem neuen Tag allerdings kommt kurz zuvor die Nachtzeit der Grossen Trübsal und des antichristlichen Reiches. – Der Morgen kommt, und auch die Nacht.
Der Herr sagte noch etwas Wesentliches in Bezug auf Israel, und zwar im Gleichnis über die zehn Jungfrauen: «Als aber der Bräutigam noch ausblieb, wurden sie alle schläfrig und schliefen ein. Um Mitternacht aber erhob sich ein lauter Ruf: Siehe, der Bräutigam! Geht aus, ihm entgegen!» (Mt 25,5-6). Und im Gleichnis über das Unkraut im Weizen sprach Er: «Während aber die Menschen schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen und ging weg» (Mt 13,25).
Gerade in der vorgerückten Nacht geht der helle Morgenstern auf (Offb 22,16). Genauso wird der Herr aber auch kommen wie ein Dieb in der Nacht (Mt 24,43; 1Thess 5,2; 2Petr 3,10; Offb 3,3; 16,15). Bei diesen Aussagen geht es immer um die Wiederkunft Jesu in Herrlichkeit zur Aufrichtung Seines Reiches auf Erden. Es steht immer in Bezug auf Israel. Für Israel ist Nacht, und ein geistlicher Schlaf ist über das Volk gekommen (Mi 3,6-7; 7,8-9).
Paulus erwähnte bereits in seinem grossen Israel-Kapitel, in Römer 11: «Wie geschrieben steht: ‹Gott hat ihnen gegeben einen Geist des Schlafs, Augen, dass sie nicht sehen, und Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag›» (Röm 11,8). Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus Jesaja 29,10. – Wenn aber diese Zeit vorüber ist und Jesus in Herrlichkeit erscheint, wird sich Jeremia 31,26 erfüllen: «Ich wachte auf und sah umher – mein Schlaf war mir köstlich gewesen.» Gott hat aus dem Schlechten etwas Gutes gemacht. «Am Abend kehrt Weinen ein, und am Morgen ist Jubel da» (Ps 30,6).
In unserem Text heisst es: «Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe.» – Welcher Tag ist hier gemeint? In diesem Zusammenhang ist es der grosse Tag der Wiederkunft Jesu. Als der Apostel Petrus an Juden schrieb, hatte er auch diesen Tag vor Augen und sagte: «Und so besitzen wir das prophetische Wort umso fester, auf das zu achten ihr wohltut, als auf eine Lampe, die an einem dunklen Ort leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen» (2Petr 1,19).