Müssen wir die Prophetie wirklich wörtlich verstehen? (Teil 3)

Die wörtliche Auslegung der biblischen Prophetie und die damit verbundene Lehre von der Entrückung vor der Trübsal ist oft starker Kritik ausgesetzt. Eine Darlegung und Stellungnahme.

Geschichtlicher Hintergrund. Die richtige Bibelauslegung zieht den historischen Hintergrund des Textes in Betracht. Das bedeutet, dass man den historischen Rahmen und die Umstände berücksichtigen muss, vor dem die Bücher der Bibel geschrieben wurden. Dr. Paul Lee Tan erklärt:

«Das richtige historische Konzept bei der Bibelauslegung ist, sich permanent bewusst zu machen, dass die Schrift in vielen verschiedenen Zeitaltern und Kulturen geschrieben wurde. Anschliessend können Anwendungen gemacht werden, die für unsere Zeit relevant sind. So kann beispielsweise das Thema, dass den Götzen Fleisch geopfert wurde, nur auf der Grundlage des historischen und kulturellen Rahmens des Neuen Testaments ausgelegt werden. Grundsätze, die daraus gezogen werden, sind für uns heute von Bedeutung.»

Kontext. «Eine aus dem Zusammenhang genommene Passage ist ein Vorwand.» Dieser Leitsatz ist mit Sicherheit zutreffend! Einer der häufigsten Fehler derer, die eine Bibelstelle falsch ausgelegt haben, ist, dass sie einen Vers aus seinem von Gott festgelegten Kontext nehmen. Ein der Schrift entnommener Satz ist nicht das Wort Gottes, wenn er in einen Kontext gestellt wird, der die Bedeutung verändert, die Gott ihm im ursprünglichen Zusammenhang zugedacht hatte.

Dr. Zuck sagt: «Der Kontext einer bestimmten Schriftstelle hat Einfluss darauf, wie sie zu verstehen ist. Mit ‹Kontext› sind mehrere Dinge gemeint:

– die Verse direkt vor und nach einer Schriftstelle

– der Abschnitt und das Buch, in dem der Vers steht

– die Dispensation, in der er geschrieben wurde

– die Botschaft der ganzen Bibel

– das historisch-kulturelle Umfeld der Zeit, in der er geschrieben wurde.»

Ein Beispiel für eine Stelle, die häufig aus dem Zusammenhang gerissen wird, ist Sprüche 11,30: «Die Frucht des Gerechten ist ein Baum des Lebens, und der Weise gewinnt Seelen.» Dieser Vers wird manchmal zur Unterstützung von christlichen Evangelisationsbemühungen verwendet. Wir freuen uns über jeden, der den Verlorenen das Evangelium predigt. Wenn wir uns aber den Kontext ansehen, ist der weise Seelengewinner eine Person, die andere zu sich selbst hinziehen kann und ihnen Weisheit lehrt. So wie die Weisheit in den Sprüchen gebraucht wird, bezieht sie sich auf Fähigkeiten im alltäglichen Leben. Die neutestamentliche christliche Evangelisation ist im Kontext nirgends zu finden. Nimmt man diese Stellen aus ihrem Kontext im Buch der Sprüche und stellt den Satzteil «der Weise gewinnt Seelen» in einen heutigen Zusammenhang, ist es durchaus verständlich, wenn darin eine Aussage gesehen wird, die sich für Evangelisation ausspricht. Im Originaltext ist eine derartige Bedeutung jedoch unmöglich.

Semantik. Die Prinzipien der wörtlichen Auslegung erkennen an, dass ein biblisches Wort oder ein Ausdruck entweder offensichtlich (denotativ) oder bildlich (konnotativ) benutzt werden kann, so wie in unseren Gesprächen heute. Wir können zum Beispiel deutlich sagen: «Er ist gestern gestorben» (denotativer Sprachgebrauch). Oder wir könnten es etwas blumiger ausdrücken: «Er hat gestern den Löffel abgegeben» (konnotativer Sprachgebrauch). Jedes Wort oder jeder Ausdruck in jeder Sprache wird auf mindestens eine dieser Weisen gebraucht.

Wir müssen uns Folgendes bewusst machen: Auch wenn wir eine Redewendung benutzen, um den Tod einer Person zu beschreiben, gebrauchen wir diese Redewendung doch für ein tatsächliches Ereignis. Einige Ausleger denken fälschlicherweise, wenn eine Redewendung oder ein Symbol für ein Ereignis gebraucht wird (z. B. Jonas Erfahrung im Bauch des grossen Fisches in Jona 2), ist auch das Ereignis nicht tatsächlich geschehen. Das ist nicht der Fall.

Literalausleger sind sich beispielsweise bewusst, dass Jesaja in Jesaja 55,12 eine Redewendung benutzte. Er sagte, im Tausendjährigen Reich würde der auf der Natur lastende adamitische Fluch aufgehoben werden: «Alle Bäume des Feldes klatschen in die Hände.» Dieses Bild ist durch bestimmte Faktoren im Kontext zu erkennen. Bäume haben keine Hände und können daher nicht klatschen. Menschen haben Hände und klatschen damit. Jesaja wollte die Freude der Natur vermitteln und schrieb den Bäumen ein Ausdrucksmittel menschlicher Freude zu. Diese rhetorische Figur wird Personifikation genannt und bezieht sich auf die zukünftige Wegnahme des Fluches, der auf der Natur liegt. Dieses Verständnis wird durch den vorangegangenen und nachfolgenden Kontext von Vers 12 gestützt. Dass es eine rhetorische Figur ist, wird von Faktoren innerhalb des Textes selbst bestimmt. Würde man die Entscheidung, ob ein Baum in die Hände klatschen kann, aufgrund einer Vorstellung treffen, die in den Text hineingelegt wurde, dann wäre es eine allegorische Auslegung. Obwohl bildliche Sprache eingesetzt wurde, wird sich die Wegnahme des Fluches wörtlich erfüllen.

Somit sehen wir, dass das Wort wörtlich im Auslegungsprozess noch auf eine weitere Weise benutzt wird, die sich von der ersten unterscheidet, die wir in Bezug auf das System der wörtlichen Auslegung verwenden. Dieser zweite Gebrauch bezieht sich auf die Semantik und darauf, ob ein Wort oder ein Ausdruck wörtlich oder bildlich benutzt wird. Das ist ein wichtiger Punkt, den wir berücksichtigen sollten, da ich später noch deutlich machen möchte, dass er Einfluss darauf hat, wie Gegner des Prätribulationismus die biblische Prophetie verzerren und falsch darstellen.

Dr. Ryrie bringt diesen Punkt deutlich zum Ausdruck:

«Symbole, sprachliche Bilder und Typen werden mit dieser Methode allesamt einfach ausgelegt. Sie stehen keinesfalls im Widerspruch zur wörtlichen Auslegung. Letzten Endes hängt die Bedeutung einer Redewendung von der wörtlichen Bedeutung der enthaltenen Begriffe ab. Redewendungen lassen die Bedeutung oftmals deutlicher werden, aber dennoch vermitteln sie dem Leser die wörtliche, normale oder einfache Bedeutung.»

Beachten Sie, dass Redewendungen oder Symbole kein Synonym für eine allegorische Auslegung sind. Das Auftreten einer Redewendung in einer Stelle rechtfertigt nicht eine allegorische Auslegung. Denken Sie daran, eine allegorische Auslegung beinhaltet das Übernehmen einer Vorstellung, die die Worte des Textes nicht ausdrücken. Eine Redewendung ist einfach nur ein konnotativer Ausdruck der Worte oder Ausdrücke innerhalb des Textes selbst.

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