Der Sonderbeauftragte (Teil 2)

«Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leib an abgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte …» (Gal 1,15-16). – Über die besondere Stellung des Apostels Paulus.

Eine neue Gemeindeentwicklung

Es geht nicht darum, die Paulusbriefe über die Briefe der anderen Apostel zu erheben. Jeder Brief hat seinen von Gott gegebenen Platz. Es geht auch nicht darum, dass nur die Paulusbriefe für die Gemeinde Geltung hätten. Alle Schrift ist von Gott eingegeben (2Tim 3,16). Paulus selbst bezeugt: «Alles ist euer, Paulus, Apollos, Kephas» (1Kor 3,21-23). An anderer Stelle ermahnt er: «Lasst das Wort Christi unter (oder ‹in›) euch reichlich wohnen …» (Kol 3,16). Das Wort des Christus besassen alle Apostel gleicherweise. Sein Heiliger Geist hat sie alle inspiriert (Joh 16,12-15).

Im umgekehrten Sinn sprach der Apostel Petrus über Paulus: «… so wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat, wie auch in allen Briefen, wenn er in ihnen von diesen Dingen redet, von denen einige schwer zu verstehen sind, die die Unwissenden und Unbefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben» (2Petr 3,15-16).

Petrus bestätigt damit den besonderen Auftrag des Paulus, die ihm gegebene Weisheit und die besonderen Offenbarungen, die er erhielt. Die Juden taten sich mit dem Verständnis der ergänzenden Lehre des Paulus sehr schwer, weil seine Neuoffenbarungen im Alten Testament noch nicht enthüllt waren. Und weil sie es nicht verstanden oder nicht verstehen wollten, verdrehten sie vieles und lehnten Paulus ab.

Die Korinther, zum Beispiel, versuchten Paulus und Petrus nach ihren eigenen Vorstellungen zu trennen (1Kor 1,11-13). Dass dies der Heilige Geist nicht zulässt, machen die oben erwähnten Verse deutlich. Aber wir entdecken bei nüchterner sachlicher Betrachtung, dass durch Paulus eine neue Gemeindeentwicklung einsetzte, die es vorher nicht gab. Paulus erhielt göttliche Offenbarungen, die kein anderer bekommen hat. Die paulinische Offenbarung schliesst zwar alle anderen Aussagen der Schrift ein und umfasst sie, ergänzt sie aber auch um ein grosses Stück und führt in tiefere, bislang unbekannte Wahrheiten und Dimensionen. Seine Briefe sind daher von hohem Wert für die Gemeinde.

Wer die Theologie des Apostels Paulus nicht studiert und verinnerlicht, wird den vollendeten Ratschluss Gottes für die Gemeinde – und daher für sich persönlich – nicht verstehen, sondern mehr oder weniger bei den Aussagen der Evangelien stehen bzw. darin stecken bleiben. Das ist aber nicht das, was Gott will. Wir sollten uns nicht an der Vorspeise sattessen, wenn noch ein herrliches Hauptgericht auf uns wartet. Der Herr hat Paulus berufen, damit wir in der Offenbarung der Erkenntnis Seiner selbst wachsen und die Tiefe der Hoffnung unserer Berufung erkennen (Eph 1,17-19).

Durch die Briefe des Apostels Paulus offenbart uns Gott wesentlich mehr als es die Evangelien tun – was auch Jesus selbst Seinen Aposteln gegenüber angedeutet hat (Joh 16,12-13). In dieser Hinsicht bekleidet der Apostel Paulus ein besonderes Amt.

Der Hebräerbrief betont: «Deshalb, das Wort von dem Anfang des Christus verlassend, lasst uns fortfahren zum vollen Wuchs und nicht wiederum einen Grund legen mit der Busse von toten Werken und mit dem Glauben an Gott, der Lehre von Waschungen und dem Hände-Auflegen und der Toten-Auferstehung und dem ewigen Gericht» (Hebr 6,1-2).

Es geht nicht darum, die Evangelien nicht mehr zu beachten, aber wir sollen in ihnen nicht stecken bleiben, sondern über sie hinaus fortfahren zum vollen Wuchs. Und das geht nur durch die Lehre in den apostolischen Briefen, allen voran in den Briefen des Paulus. Diesbezüglich möchte ich das Wort Gottes, an Amazja gerichtet, geistlich auf uns anwenden: «Der Mann Gottes sprach: Der Herr hat dir noch mehr zu geben als nur das!» (2Chr 25,9).

Üben wir uns darin, uns nach dem auszustrecken, was der allmächtige Herr uns mehr an geistlichen Kostbarkeiten zu geben hat. Eine neutestamentliche Parallele dazu ist Epheser 1,3: «Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jedem geistlichen Segen in den himmlischen Regionen in Christus.» – Diesen geistlichen Reichtum tut der Herr uns durch die Offenbarungen an den Apostel Paulus kund. 

Es ist ein grosses Wunder, dass Gott einen Menschen, der dermassen gegen Christus war, dermassen für Christus einsetzt. Bei Gott sind alle Dinge möglich. Man sagte über Paulus: «Der, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er einst zerstörte» (Gal 1,23). Betrachten wir einige Besonderheiten seiner Berufung:

– Paulus ist der einzige Apostel, der als Apostel der Nationen bekannt ist. 

– Nur er spricht vom «Leib des Christus». 

– Nur er spricht von Gnade ohne Werken, was die Erlösung betrifft. Paulus nennt sich sogar «den Verwalter der Gnade Gottes» (Eph 3,2; Röm 3,28; Gal 2,16; Tit 3,5). Jemand bezeichnete Paulus einmal als «eine Fabrik der Gnade» (vgl. Apg 20,24). Petrus und die anderen Apostel sprechen zwar auch über die Gnade (z.B. 1Petr 3,18; 5,12), aber die Theologie der vollkommenen Gnade ohne Werke wird durch Paulus dargelegt.

– Paulus empfing die tiefsten Geheimnisse des Neuen Testaments. Darum sah er sich und seine Gefährten auch als «Verwalter der Geheimnisse Gottes» (1Kor 4,1).

Seine Offenbarungen gehen am weitesten zurück, bis vor Grundlegung der Welt, als es noch keine Schöpfung gab und keine Zeit – und sie blicken am weitesten voraus, bis an den Punkt, an dem Jesus das Reich wieder dem Vater übergibt und Gott alles in allem sein wird (1Kor 15,24-28; vgl. auch Eph 1,4-10: vor Grundlegung der Welt bis zur Fülle der Zeiten). Zwar führen auch die anderen Apostel in tiefere Wahrheiten, aber niemand so weitreichend wie Paulus. Sein vom Herrn eigens empfangenes Evangelium beginnt, genau genommen, mit seiner Berufung in Apostelgeschichte 9 und nach der Bekehrung der ersten Heiden in Apostelgeschichte 10 bis 11. 

Paulus hat seine Botschaft sogar als den Abschluss des biblischen Kanons bezeichnet (Kol 1,25). Das Buch der Offenbarung bildet zwar den Schluss der Bibel, aber den heilsgeschichtlichen Kanon an sich, im Hinblick auf die Gemeinde, bringt tatsächlich Paulus auf den Punkt. Johannes empfing nämlich die Offenbarung für die zukünftigen Ereignisse auf dieser Erde – Gericht und Segen. Dafür wurde er unter anderem im Geist in den Himmel versetzt (Off 4,1). Paulus empfing demgegenüber Offenbarungen in Bezug auf die himmlischen Segnungen (Eph 1,3ff). Dafür wurde er in den dritten Himmel entrückt (2Kor 12,1ff). So kann auch nur Paulus von seinen Offenbarungen sagen: «Mir (nicht uns) ist gegeben worden, den Nationen den unergründlichen Reichtum des Christus zu verkündigen und alle zu erleuchten …» (Eph 3,8-9). – Ganz so, wie er selbst «erleuchtet» wurde.

Paulus spricht von einem Evangelium, das ihm anvertraut worden ist (1Tim 1,11; Tit 1,3). Er redet von «meinem Evangelium» (Röm 2,16; 16,25; 2Tim 2,8), von «das von mir verkündete Evangelium» (Gal 1,11), «das Evangelium, das ich unter den Nationen predige» (Gal 2,2), «das Evangelium, das ich euch verkündet habe» (1Kor 15,1). Er spricht davon, dass das von ihm verkündete Evangelium nicht von menschlicher Art ist (Gal 1,11). Dieses Evangelium hat er nicht von anderen Menschen (Aposteln) übernommen, sondern es ist ihm von Gott bzw. von Christus selbst offenbart worden, und zwar offensichtlich für einen besonderen Auftrag (Gal 1,12.16-17). 

Weder Petrus noch andere messiasgläubige Juden haben Paulus belehrt. Von jeder menschlichen Autorität ist er von Anfang an frei. Jesus Christus selbst hat ihn unmittelbar beauftragt und ist sein Lehrer gewesen. Es handelt sich bei seinem Evangelium daher um mehr als die prophetische Botschaft des Alten Testaments oder die Johannes des Täufers und auch um mehr als das, was Jesus in den Evangelien verkündet. – Mögen wir doch über diese Wahrheiten nachsinnen und sie wie Maria in unseren Herzen bewegen (Lk 2,19).

Norbert Lieth absolvierte seine theologische Ausbildung an der Bibelschule des Mitternachtsruf in Südamerika und war dort auf verschiedenen Missionsbasen tätig. Ein zentraler Punkt seines weltweiten Verkündigungsdienstes ist das prophetische Wort Gottes.
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