Das Wissen um die nahende Wiederkunft Jesu entbindet uns nicht von unserer gesellschaftlichen Verantwortung, die wir als Nachfolger Jesu haben. Genauso wenig das Argument, dass wir sowieso nichts bewirken können. Um einen harten Vergleich zu ziehen: Was konnten schon Paul Schneider, Dietrich Bonhoeffer oder Wilhelm Busch äusserlich bewirken? Natürlich haben sie viel bewirkt in ihrer Zeit. Bleiben wir aber bei der damaligen äusseren Situation stehen. Keiner konnte das Massenmorden verhindern oder stoppen und das Terrorregime unterbinden. Auch die Predigten von Paul Schneider in Buchenwald – seine lautstarke Benennung des Unrechts durch die Gitterstäbe der Arrestzelle hindurch – änderten nichts an der Brutalität und dem Morden im KZ Buchenwald. Er war bereits ermordet, als das Verhängnis des Zweiten Weltkrieges begann. Bonhoeffer wurde genauso hingerichtet. Auch Pfarrer Wilhelm Busch konnte durch seine mutigen Predigten und sein Zeugnis den Lauf der Ereignisse nicht verhindern. Und trotzdem sahen diese Männer ihre Verpflichtung vor Gott und dem Evangelium. Sie nahmen ihre Verantwortung wahr. Sie wurden schon damals vielen Christen eine Hilfe, im Angesicht der ideologischen Verwirrung zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden.
Wir dagegen versuchen manchmal unseren Rückzug und unsere Passivität in ethischen Fragen damit zu rechtfertigen, dass der Herr ja ohnehin bald kommt und sich alles erfüllen muss. Man muss nicht alle theologischen Ansichten Bonhoeffers teilen. Was uns aber nachdenklich stimmen sollte, ist der «Heilsegoismus», den Bonhoeffer der pietistischen Frömmigkeit damals vorwarf. Was meinte er damit?
Ein Teil der Glaubenden betonte eben nur geistliche Fragen und wollte keine gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Um Matthäus 5 aufzugreifen – so verlor ein ganzer Teil der Gemeinde Jesu seine Salzkraft. In der Nachkriegszeit waren zahlreiche Schuldbekenntnisse fällig.
Bonhoeffer traf auch eine wichtige Unterscheidung zwischen dem Vorletzten und dem Letzten. Darin sehen wir eine klare Abgrenzung gegenüber der transformatorischen Theologie. Das «Letzte» war für ihn immer das kommende Reich Gottes, das allein Gott schaffen wird. Aber trotzdem wollte er im «Vorletzten», heute, seine Verantwortung wahrnehmen, gerade auch in gesellschaftlicher Hinsicht.
Das können wir auch auf die Prioritäten anwenden. Das Letzte und Wichtigste ist immer die Evangeliumsverkündigung und der Bau der Gemeinde Jesu, die Rettung von Menschen. Trotzdem wollen wir aber heute im Vertrauen auf den Herrn auch mitgestalten und Verantwortung wahrnehmen, soweit uns das möglich ist. In 2. Thessalonicher 2,7 lesen wir, dass das Geheimnis der Gesetzlosigkeit schon am Wirken ist, aber der, der es noch zurückhält, erst hinweggenommen werden muss. Eine Reihe von bibeltreuen Auslegern bezieht diese Stelle auf die Entrückung der Gemeinde oder die Hinwegnahme des Heiligen Geistes. Es kann auch ganz einfach die aufhaltende Kraft Gottes sein. Wir können nicht mit letzter Sicherheit sagen, was mit dem Aufhaltenden genau gemeint ist. Wenn man in dem Aufhaltenden die Gemeinde sieht, kann man fälschlicherweise damit sogar noch die eigene Passivität und den Rückzug aus der Verantwortung als Salz der Erde rechtfertigen. Nach dem Motto: «Damit es richtig fault, muss erst noch das Aufhaltende, sprich wir, hinweggenommen werden.»
Ja, es könnte wirklich sein, dass die Fäulnis auch deshalb so rasch voranschreitet, weil das Salz seine Kraft verloren hat. Denken wir an Corona – ein Thema, das mit seinen Zusammenhängen und Auswirkungen sehr komplex und schwierig ist, auch innerhalb der Gemeinde Jesu. Jesusnachfolger können hier zu unterschiedlichen Erkenntnissen und Einschätzungen kommen, wobei uns aber bei allem Ringen daran gelegen sein muss, die geistliche Einheit zu bewahren. Und was die diesbezüglichen Vorschriften betrifft, sind wir als Gemeinde Jesu auch zu einem sehr umsichtigen und überlegten Umgang aufgerufen. Ausserdem wollen wir dankbar sein, wo wir unser Grundrecht auf Religionsfreiheit noch weitgehend ungehindert wahrnehmen können. Dennoch sollte die Gemeinde Jesu immer ihre gegebenen Möglichkeiten voll ausschöpfen und nicht meinen, durch einen vorauseilenden Gehorsam als besonders «staatstreu» glänzen zu müssen. Es stellt sich daher die Frage, ob wir wirklich alle Massnahmen schweigend hinnehmen müssen und nicht etwa zu entsprechenden Sachverhalten unsere Stimme erheben und die gesetzlichen Möglichkeiten, die gegeben sind, ausschöpfen sollten.