Der Evangelist Matthäus berichtet, dass Jesus «nach sechs Tagen» drei Seiner Jünger «beiseite auf einen hohen Berg» führte (Mt 17,1). Was war sechs Tage zuvor geschehen? Die Antwort finden wir im unmittelbar vorangehenden Abschnitt. Dort wird berichtet, dass Jesus mit Seinen Jüngern über die Nachfolge sprach: «Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie den Sohn des Menschen haben kommen sehen in seinem Reich!» (Mt 16,28).
Dieser Vers hat schon für etliche Irritationen gesorgt. Die Aussage des Herrn Jesus kann sich eigentlich nicht auf Seine noch in der Zukunft liegende Wiederkunft in Kraft und Herrlichkeit beziehen und auch nicht auf das Tausendjährige Reich, denn dann wäre Seine Aussage, dass einige bis zu diesem Ereignis den Tod nicht schmecken würden, nur schwer zu erklären. Ich denke deshalb, dass sich diese Aussage vielmehr auf die sechs Tage später stattfindende Verklärung und auf die darauffolgenden Ereignisse bezieht. Der Herr Jesus sagt so viel wie: «Nur noch kurze Zeit und das Reich Gottes wird euch vor Augen geführt werden». Es geht also nicht um das Reich Gottes in Kraft und Herrlichkeit, sondern um das Reich Gottes, das in Jesus Christus seinen Anfang nimmt. Jesus sprach in Bezug auf Sein Leben und Wirken auf Erden vom Reich Gottes, etwa in Lukas 17,21b: «Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.» Oder wie es Paulus im Kolosserbrief ausdrückt: «Er hat uns errettet aus der Herrschaft der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe» (Kol 1,13). Und dies bezieht sich nicht nur auf die Zukunft, sondern bereits auf die Gegenwart. Die kurz darauf stattfindende Verklärung war so etwas wie ein erster Schritt, eine Art Fingerzeig Gottes: Das Reich Gottes bricht an! Der verheissene Erlöser tritt an zu Seinem Triumphzug.
Jetzt unterscheiden sich aber die Berichte von Matthäus und Markus einerseits und Lukas andererseits in der Angabe, nach wie vielen Tagen diese Verklärung stattgefunden hat. Für den Inhalt spielt das zwar keine Rolle, aber ich möchte dennoch kurz darauf eingehen, um zu verdeutlichen, dass es keinen Grund gibt, den Aussagen der Bibel zu misstrauen. Matthäus und Markus sprechen von genau sechs Tagen. Lukas hingegen spricht von ungefähr acht Tagen. Wir müssen bei der Bibelauslegung immer beachten, was gesagt und was nicht gesagt wird. Wenn meine Frau zum Beispiel sagt, dass ich gestern Nudeln gegessen habe, dann heisst das noch lange nicht, dass ich nicht auch Kartoffeln gegessen habe. Oder wenn mich jemand fragt, wie lange ich im September auf Deutschland-Reise sein werde, dann werde ich antworten: «Ungefähr zwei Wochen.» Und der eine versteht darunter 14 Tage, die andere vielleicht 10 Tage, meine Kinder hoffen 16 Tage … Lukas spricht hier von ungefähr acht Tagen, er macht also gar keine punktgenaue Angabe; und im Unterschied zu Markus und Matthäus zählt er vielleicht nicht nur die Tage zwischen den beiden Ereignissen, sondern den jeweiligen Tag der Geschehnisse noch mit. Ganz genau können wir es nicht wissen, aber ein Widerspruch ist dies nicht. Am Wort Gottes gibt es nichts zu rütteln. Und wenn sich vermeintliche Widersprüche auftun, dann nur, weil wir es falsch deuten.
Dass es Petrus, Jakobus und Johannes sind, die Jesus mit auf diesen Berg nimmt, ist nicht verwunderlich, denn diese drei Jünger bildeten so etwas wie den harten Kern der Apostel. Auch bei anderen Begebenheiten waren diese drei anwesend; zum Beispiel im Garten Gethsemane, als Jesus sich mit den dreien zurückzog und diese dann leider einschliefen, während ihr Herr und Meister im ringenden Gebetskampf verharrte. Offensichtlich hatten Jakobus, Johannes und Petrus ohnehin einen sehr guten Schlaf, denn sie schliefen nicht nur im Garten Gethsemane, sondern auch hier bei der Verklärung (Lk 9,32a). Interessant ist auch, dass Jesus überhaupt jemanden mit auf den Berg nahm. Er hätte ja auch alleine gehen können. Dieses Vorgehen erinnert an das alttestamentliche Zeugenprinzip, welches besagt, dass es an zwei bis drei Zeugen um eine Sache bedarf (5.Mo 17,6; 19,15). Ich denke, das war Jesus immer ein Anliegen. Er trat praktisch nie ohne Zeugen auf, sodass Sein Leben und Wirken derart gut belegt und bezeugt sind wie kein anderes Ereignis, welches länger als 200 Jahre zurückliegt.
Und damit kommen wir zu dem eigentlichen Ereignis: «Und er wurde vor ihnen verklärt, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiss wie das Licht» (Mt 17,2). Je nach Bibelübersetzung heisst es «verklärt», «umgestaltet» oder «verwandelt». Auf jeden Fall ist hier etwas ganz Ungewöhnliches passiert – ich bin geneigt, zu sagen: etwas Ausserirdisches. Und dennoch fand es auf Erden und vor den Augen der drei Zeugen statt. Versuchen wir, das Geschehen ein wenig zu beleuchten. Petrus, Jakobus und Johannes hatten den Herrn Jesus bislang ausschliesslich als Mensch gesehen. Sicherlich war Jesus ein aussergewöhnlicher Mensch, aber Er war ein Mensch. Und nun, auf diesem Berg, sehen die Jünger ihren Herrn erstmals in Seiner göttlichen Herrlichkeit. Lukas berichtet, dass das geschah, während Jesus betete. Immer wieder zog Jesus sich zurück, um das Gespräch mit Seinem himmlischen Vater zu suchen. Er war zu jeder Zeit im innigen Gebet mit Gott verbunden.
Die Jünger waren wie bereits erwähnt eingeschlafen. Ist das vielleicht ein grundsätzliches Problem, auch für uns heute? Überkommt uns nicht auch oft die Müdigkeit, wenn wir in die Gebetsstunde wollen? Lassen wir uns nicht immer und immer wieder ablenken und vom Gebet abhalten? Wenn es nicht die Müdigkeit ist, dann sind es unsere Gedanken, die plötzlich abschweifen, oder es ist das Telefon, das klingelt, oder die Hektik des Alltags. Ich glaube, viele von uns – mich eingeschlossen – sind gar nicht mehr fähig, die Ruhe und die Abgeschiedenheit im Gebet mit Gott zu geniessen. Wie ist es um unsere Stille Zeit mit Gott bestellt? Und wenn ich Stille Zeit sage, dann meine ich nicht ein Bibellesen und Gebet zwischen Tür und Angel. Der Herr Jesus will, dass wir beten. Er fordert uns unmissverständlich dazu auf. Und wie traurig war Er, als Er wiederholt erleben musste, dass Seine Jünger von der Müdigkeit übermannt und vom Gebet abgehalten wurden: «Könnt ihr also nicht eine Stunde mit mir wachen?» (Mt 26,40). Und dabei weiss Jesus, wie sehr wir das Gebet benötigen: «Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt!» (Mt 26,41). Ich bin davon überzeugt, je mehr ein Kind Gottes betet, umso weniger Raum bietet es der Sünde; und je mehr eine Gemeinde betet, umso kraftvoller ist ihr Zeugnis. Doch auf der anderen Seite gibt es jemanden, der genau das verhindern möchte: der Teufel, der jedes Gebet im Keim ersticken will. Deswegen ist es besser, wenn Sie ohne Uhr und erst recht ohne Telefon in den Gottesdienst gehen. Jesus hat Seinen Jüngern nicht nur ein Gebet gelehrt, sondern durch Sein eigenes Gebetsleben auch ein Beispiel gegeben.