Warum sind Christen so oft uneins? (Teil 1)

Vier mögliche Gründe und ein Schlüsselwort.

Die Aufsplitterung des Christentums in unzählige Denominationen, Freikirchen und Sekten ist mittlerweile unübersehbar geworden. Spaltungen gehören zur Tagesordnung, so scheint es. Auch der Mitternachtsruf ist in seiner 60-jährigen Geschichte von mannigfaltigen Kontroversen und bitteren Auseinandersetzungen nicht verschont geblieben. Und das wird wohl auch in der Zukunft so sein. Woran liegt das?

Ich möchte vier Gründe bzw. Antworten anführen. Die erste Antwort ist einfach, aber wahrscheinlich am schwersten zu schlucken. Die Uneinigkeit unter Christen liegt in der menschlichen Natur begründet. «Überaus trügerisch ist das Herz», sagt der Prophet Jeremia, «und bösartig; wer kann es ergründen?» (Kap 17,9). Gläubige können argumentieren, dass sie durch Jesus ein neues Herz bekommen haben (Röm 6). Zu Recht! Und doch haben auch Christen mit Sünde in ihrem alten Leib zu kämpfen (Röm 7). Solange wir noch in diesem von Sünde angegriffenen Körper zuhause sind, ist es für jeden von uns unmöglich, alles richtig zu sehen. «Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels, undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht» (1.Kor 13,12). Erst wenn wir auferstehen oder verwandelt werden und unseren Herrn von Angesicht zu Angesicht sehen, werden wir alles verstehen (vgl. 1.Joh 3,2).

Christen sind unterschiedliche Persönlichkeiten, sie haben unterschiedliche Stärken, unterschiedliche Schwächen, unterschiedliche Vorlieben, unterschiedliche Sünden, mit denen sie zu kämpfen haben; ihre Bildung, ihre Reife, ihre geistliche Begabung, ihre Beziehung zum Herrn, ihr Intellekt, ihre Auffassungsgabe ist unterschiedlich … Kein Wunder, dass wir so oft uneins sind! Menschen sind komplexe, fühlende und denkende Wesen. Christen sind da keine Ausnahme. Die Bekehrung hat uns nicht zu gleichgeschalteten Robotern gemacht. «Tiefes Wasser ist der Ratschluss im Herzen des Mannes, aber ein verständiger Mann schöpft ihn heraus» (Spr 20,5). 

Gottes Wort ist objektive Wahrheit, aber sie wird von Menschen subjektiv gedeutet. Jakobus, Leiter der Jerusalemer Muttergemeinde, sagt in Bezug auf Lehrfragen: «Denn wir alle straucheln oft» (Jak 3,2). Deshalb sollen Gläubige nicht so schnell dabei sein, Lehrer im Wort zu werden, «da ihr wisst, dass wir ein schwereres Urteil empfangen werden» (Jak 3,1).

Jakobus 3,2 ist in Bezug auf unsere Frage ein «Königsvers». Wenn ein Halbbruder Jesu und eine «Säule» der frühen Gemeinde (Gal 1,9) sagt, dass «wir alle» oft straucheln und sich selbst damit einschliesst, wie viel mehr gilt dann diese Aussage uns heute, die wir 2.000 Jahre und kulturell gesehen Lichtjahre von den Aposteln entfernt sind! 

Heute haben diverse miteinander konkurrierende theologische Systeme und theologische Prämissen einen Einfluss darauf, wie wir unsere Bibel lesen. Wir mögen dies nicht bewusst wahrnehmen, aber durch die Gemeinden, die wir besuchen, die Bibelschulen, die wir absolviert haben, oder die christliche Literatur, die wir lesen, ist jeder von uns theologisch unterschiedlich geprägt. Es gibt auf protestantischer Seite u.a. Bundestheologen, Ersatztheologen, Dispensationalisten, Ultradispensationalisten, progressive Dispensationalisten, Baptisten, Calvinisten, Lutheraner, Mennoniten, Offene Brüder, Geschlossene Brüder, Allversöhner, Arminianer, Amillennialisten, Postmillennialisten, Prämillennialisten, Prätribulationisten, Midtribulationisten, Posttribulationisten, Presbyterianer, Kongregationalisten, Anglikaner, Pfingstler usw. usf. … Und wenn auch fast alle von ihnen mit gutem Recht sagen, sie würden sich nur an die Bibel halten, so sind doch alle von verschiedenen Auslegungssystemen und systematischen Theologien bestimmt. Die christliche Kultur, in der wir uns bewegen, färbt unweigerlich die Brille, mit der wir die Bibel lesen. 

Verstehen Sie mich nicht falsch: Jeder hat eine solche Brille, und das ist in Ordnung. Die Kunst ist, die richtigen Gläser zu erwischen. Paulus erwartet, dass wir Gottes Wort «nach der Lehre» deuten (Tit 1,9). Die gesunde apostolische Lehre soll unser Filter sein. Wer sagt, er lese die Bibel ohne Brille und ohne Filter, betrügt sich selbst. Mit Recht wendet zum Beispiel kein normaler Christ heute die Aufforderung im Sinaibund, aufmüpfige Söhne ausserhalb der Stadt zu steinigen, ungefiltert auf seinen Alltag an (5.Mo 21,18-21).

Wir müssen anerkennen, dass wir alle – auch die klügsten und «frömmsten» unter den Bibellehrern – fehlbare Geschöpfe sind. Keiner von uns wäre da Jakobus in irgendeiner Weise überlegen. Wir sind Menschen, die sich sogar selbst täuschen können. Das weiss die Bibel schon lange (Jer 17,9). Säkulare Psychologen haben es inzwischen auch herausgefunden. Von Natur aus neigen wir dazu, die Realität so wahrzunehmen, wie sie in unser Schema passt und unserem subjektiven Weltbild entspricht. Deshalb reden wir Christen auch so oft aneinander vorbei und kommen auf keinen grünen Zweig. Wir stehen immer wieder in der Gefahr, Worte und Sätze in der Bibel gemäss unserer persönlichen Neigung zu deuten. 

Ein Beispiel: Da ist ein Mensch, der ganz allgemein sehr geordnet und systematisch denkt. Alles braucht in seinem Leben eine klare Struktur und Erklärung. Er ist rational, logisch und mag keine Unklarheiten. Wozu wird er wohl hinsichtlich der Bibelauslegung neigen? Er dürfte Sympathien für Auslegungssysteme haben, die die Lehre der Bibel lückenlos ordnen und in verschiedene wasserdichte Einheiten und klar abgesteckte Zeitalter einteilen. Es wäre ihm ein Anliegen, jedes biblische Detail genau erklärt zu haben, und er würde darauf achten, dass sich ja keine Ungereimtheiten einschleichen.

Da ist ein anderer Mensch. Er ist eher ein sogenannter Künstlertyp. Sein Motto lautet: Nur die Dummen brauchen Ordnung, das Genie überblickt das Chaos. Und ein Genie ist er wirklich. Was für andere Widersprüche sind, das ist für ihn die Würze, die das Leben erst lebenswert macht. Er strebt stets nach einer höheren geistigen Ebene. Er wird des Lernens nimmersatt. Wozu wird er wohl in der Bibelauslegung neigen? Er dürfte eine Abneigung gegen systematisierte Auslegungssysteme haben und behaupten, damit stecke man Gott in eine Box. Ansprechend wären für ihn eher mystischere, «ganzheitlichere» Herangehensweisen an die Bibel, die das grosse Ganze im Blick haben, Paradoxien begrüssen und einen Spielraum für Unklarheiten lassen.

Beide glauben dasselbe. In diesem Beispiel ist nicht der eine der Gute und der andere der Böse. Beide lieben Jesus Christus, bejahen die Dreieinheit Gottes, halten Gottes Wort hoch und glauben dem Evangelium. Und doch sind die Theologien, die sie um den Kern ihres Glaubens gebildet haben, teilweise grundverschieden. 

In gewisser Weise verlangen wir alle nach einem theologischen Haus, in dem wir uns wohlfühlen können. Und weil wir unterschiedliche Persönlichkeiten sind, können unsere theologischen Häuser auch unterschiedlich aussehen. Aber wie ein Bibellehrer einmal erklärte, hat jedes theologische Haus auch seine Leichen im Keller. Weil wir uns irren, weil wir sündig sind, weil wir unsere Vorlieben haben und weil wir unsere Begrenzungen haben, wird es in unseren Überzeugungen immer Punkte geben, die andere nicht nachvollziehen können und die – halten Sie sich fest – falsch sind. Und damit kommen wir zum zweiten Punkt.

René Malgo ist Mitarbeiter im Redaktionsbereich des Missionswerkes Mitternachtsruf. Er ist verheiratet mit Wanda und hat 5 Kinder. Sein Sachgebiet umfasst das Redigieren von Büchern sowie das Zusammenstellen der Artikel für die beiden Zeitschriften «MNR» und «NAI». Er ist Autor verschiedener Publikationen.
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